Zum 90. Geburtstag von Fidel Castro

Revolutionär im Ruhestand

Fidel Castro ist 90 Jahre alt geworden. Er wirkt wie ein verlorenes Überbleibsel aus einer längst vergangenen Zeit.

Wer bei Google den Namen »Fidel Cas­tro« eingibt, bekommt direkt dazu das Adjektiv »tot« als ersten Suchvorschlag. Ob dies nun einem Wunsch vieler Nutzer entspricht oder den immer wiederkehrenden Spekulationen über sein Ableben geschuldet ist, sei dahingestellt. Fest steht: Fidel Castro lebt, er feierte am 13. August seinen 90. Geburtstag. Zu diesem Anlass ließ er sich sogar, seit April das erste Mal, wieder öffentlich blicken, bei einer Gala zu seinen Ehren im Karl-Marx-Theater in Kubas Hauptstadt Havanna.
Wenn man aktuelle Bilder von Castro betrachtet, ist der Ergänzungsvorschlag von Google vielleicht auch nur eine Vorwegnahme dessen, was unweigerlich bald bevorsteht. Castro selbst hatte dies bei seinem öffentlichen Auftritt beim Parteitag der kommunistischen Einheitspartei im April angedeutet. »Wir alle kommen an die Reihe«, sagte er damals und fügte hinzu: »Vielleicht ist es eines der letzten Male, dass ich in diesem Saal spreche.« Vielerorts geht die Berichterstattung schon einen Schritt weiter. »Wer war Fidel Castro?« fragte eine Reportage im WDR, die auch sonst ausschließlich in der Vergangenheitsform über den letzten großen Revolutionär berichtete, als sei er bereits tot. Auch die meisten anderen Berichte, die derzeit weltweit die Zeitungen und Fernsehkanäle füllen, sind eher im Stile eines Nachrufs gehalten. Fidel Castro ist Vergangenheit, sein Geburtshaus ist bereits jetzt eine Touristenattraktion, besonders für die rasant wachsende Zahl an US-amerikanischen Touristen, die seit der politischen Annäherung zwischen Kuba und den USA ins Land strömen. Dass Castro noch lebt, erscheint tatsächlich als Anachronismus in einer Welt, in der der Sozialismus weder in seiner real existierenden Variante noch als ernstzunehmende politische Bewegung von großer Bedeutung ist. Dies gilt auch für Kuba selbst, wo sich trotz revolutionärem Pathos und überholter antiimperialistischer Rhetorik im Stil des Kalten Kriegs ebenfalls die Welt weitergedreht hat und nun eine andere ist als in den sechziger Jahren, in der der alte Castro festzustecken scheint. »Vamos bien« (Es läuft gut) kann man in großen roten Lettern neben seinem aktuellen Konterfei auf Schildern in der kubanischen Hauptstadt lesen, wobei seine Erscheinung eher das Gegenteil vermittelt.
Es gibt aber wohl wenige Menschen, die auf so ein bewegtes Leben zurückschauen können, das zugleich solch einen Einfluss auf die Weltgeschichte hatte. »Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche« – den von Ernesto Che Guevara geprägten Spruch hatte sich Castro schon früh zu eigen gemacht. 1947, mit gerade einmal 21 Jahren, schloss er sich der Karibischen Legion an, einer bunten Truppe, die sich vorgenommen hatte, den Diktator Rafael Trujillo in der Dominikanischen Republik zu stürzen. Das Vorhaben scheiterte, Castro widmete sich vorerst wieder seinem Jurastudium und seinem Engagement in der sogenannten Orthodoxen Partei, dem Partido del Pueblo Cubano (Ortodoxos). Kurz vor den Wahlen im Jahr 1952, zu denen auch Castro antreten wollte, kam es zum Militärputsch, angeführt vom späteren Diktator Fulgencio Batista. Nachdem eine Verfassungsklage durch den mittlerweile promovierten Juristen Fidel Castro gegen den Putsch keinen Erfolg hatte, entschied sich der angehende Revolutionär zusammen mit 160 anderen Kämpfern kurzerhand, das Militärregime zu stürzen. 1953 wurde er dafür zu 15 Jahren Haft verurteilt. Das ­erneute Scheitern tat seinem revolutionärem Selbstbewusstsein keinen Abbruch. »Die Geschichte wird mich freisprechen«, so der bekannte Ausspruch Castros vor Gericht. Bereits nach zwei Jahren kam er frei – sein Schwager Rafael Díaz-Balart war in der Zwischenzeit zum stellvertretenden Innenminister aufgestiegen – und gründete daraufhin M-26-7, die Guerilla­gruppe Bewegung 26. Juli. Im mexikanischen Exil trainierte sie den Guerillakampf, bis Cas­tro Ende 1956 zusammen mit seinem Bruder Raúl, Che Guevara, Camillo Cienfuegos und 80 weiteren Genossen auf dem Schiff »Granma« auf die Insel zurückkehrte und dort den Guerillakrieg begann, mit breiter Unterstützung in der Bevölkerung. Zu Jahresbeginn 1959 siegte die Revolution in Kuba. Legere junge Männer und Frauen mit einfachsten Waffen in der Hand nahmen die Straßen von Havanna ein, unter ihnen der mittlerweile 32jährige Fidel Castro, der sich schon damals in Szene zu setzen wusste. Zu den vielen Superlativen, mit denen seine Person bedacht wird, gehörte bis zu seinem Rücktritt auch das des am längsten regierenden Staatschefs der Welt. Ein halbes Jahrhundert blieb er an der Macht, trotzte dem US-Embargo, Wirtschaftskrisen und einigen Mordversuchen, bevor er sich Anfang des neuen Jahrtausends altersbedingt von seinem jüngeren Bruder ablösen ließ.
Aus idealistischen und überzeugten Revolutionären, die mit der Waffe in der Hand und unter Einsatz ihres Lebens mit dem Kampf um Befreiung ernst machten, sind selbstgefällige alte Männer geworden, die sich selbst als angestammte Herrscher eingesetzt haben. Früher charismatisch und revo­lutionär, heute voll Pathos und Paternalismus. Aus der Bewegung ist eine Gerontokratie geworden. Castro personifiziert damit den real existierenden So­zialismus. Er steht für sein historisches Scheitern, in Form der von alten Männern autoritär konservierten »institutionellen Revolution«. Zugleich steht er auch für das Glücksversprechen des Sozialismus, das in Kuba zwar auch längst nicht erfüllt wurde, aber den Menschen dort ein Leben ermöglicht hat, das in Hinblick auf Bildungschancen, soziale Gleichheit, Gewaltkriminalität, Armut und Hunger weitaus besser ist als in den meisten anderen Ländern Lateinamerikas mit ihrer Diktatur des freien Marktes.
Hierin liegt ein Grund, dass Castro in Kuba als Heiliger verehrt wird: Fidel, der »Erleuchtete«, der »heilige Sohn des Vaterlandes«, der »moderne Jesus«. Überall im Land lassen sich Gedenk­tafeln finden, wo er auf seinem Guerilla-Feldzug eine Nacht geschlafen oder eine leckere Paella verspeist haben soll. Der Helden- und Heiligenmythos, der Castro umgibt, ist aber keineswegs nur von oben verordnete Staatsdoktrin, sondern wird ebenso von unten gefüttert. Der kolumbianische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger Gabriel García Márquez schrieb vor einiger Zeit von »überwältigender und unwiderstehlicher Anmut, die nur diejenigen leugnen können, die nicht das Glück hatten, ihn zu erleben«. Selbst der kubanische Taxifahrer, dem kein gutes Wort über den comandante über die Lippen kommt, würde sich begeistert an die Straße stellen, sollte es nochmal eine Parade mit Fidel Castro geben. Wenn hingegen sein technokratischer Bruder Raúl auftritt, könne man jedem eine Kiste Bier anbieten und trotzdem würde niemand kommen. Fidel Castro steht für viele für die bis heute unerfüllte Hoffnung auf eine bessere Welt und für die längst vergangene Zeit, in der überall auf der Welt Menschen von der Revolution träumten und ­bereit waren, dafür zu kämpfen.
In dieser Vergangenheit lebt Castro noch immer. »Sein Verhalten angesichts von Niederlagen (…) scheint einer privaten Logik zu gehorchen: Er gesteht eine solche nicht einmal ein und hat keine Minute Ruhe, bevor er es nicht schafft, die Bedingungen umzukehren und sie in einen Sieg zu verwandeln«, schrieb García Márquez weiter über den Revolutionär im Ruhestand. Mit dieser Mentalität haben sich Fidel sowie sein Bruder Raúl immer mehr von der realen Welt abgeschottet. »Jetzt haben wir den Krieg gewonnen!« heißt es auf riesigen Straßenschildern in Havanna, während Karl Lagerfeld mit Chanel in der Innenstadt Modeschauen veranstaltet und für Dieter Bohlen und »Deutschland sucht den Superstar« die kolonialen Prachtstraßen abgesperrt werden. Kuba hat den Krieg nicht gewonnen. Er ist längst vorbei, nur haben das die Castros und viele ihrer Mitstreiter verpasst. Die großen Kämpfe, deren wichtiger Teil sie waren, sind Geschichte, wenn auch die Gründe für Revolutionen nicht weniger geworden sind.
Aber hiervon will man sich die Geburtstagsfeier nicht verderben lassen. Seit Monaten schon dreht sich das komplette öffentliche Leben Kubas nur um den Ehrentag. Stolze 25 Bücher über Fidel Castro haben kubanische Verlage anlässlich seines runden ­Geburtstags veröffentlicht, ein berühmter Zigarrendreher hat ihm eine 90 Meter lange Havanna vermacht, die längste der Welt. »Die Feiern zum 90. Geburtstag von Fidel Castro sind in Wahrheit seine Abschiedsfeier: ebenso unverhältnismäßig und nervig wie sein politisches Leben«, schrieb die kritische Bloggerin Yoani Sánchez. Castro selbst hat zu dem besonderen Anlass einen seiner selten gewordenen Texte im Staats- und Parteiorgan Granma veröffentlicht, mit dem schlichten Titel: »Der Geburtstag«. In den über 400 Kommentaren unter seinem selbst verfassten Geburtstagsgruß ­findet sich nicht eine kritische Stimme, was viel über die Einstellung der Partei zu Meinungsfreiheit und Zensur aussagt.
Ein Geburtstagsgeschenk besaß ungewollt eine besondere Symbolik. Ein Computerclub der Insel hat dem »his­torischen Führer der Revolution« eine E-Mail-Adresse eingerichtet, an die man seine Glückwünsche schicken kann: comandante@jovenclub.cu. Nach Meinung des Clubs zweifelsohne das bedeutendste Geschenk zu Ehren seines 90. Geburtstages. Dass auf der letzten Insel des real existierenden Sozialismus im Jahre 2016 die Einrichtung einer Mail-Adresse als revolutionärer Fortschritt angepriesen wird, steht exemplarisch dafür, auf welcher historischen Stufe der Tropensozialismus stehengeblieben ist. So kann man also nun dem máximo líder eine E-Mail in die Vergangenheit schicken. Und sich vorstellen, wie dort der Held des antiimperialistischen Kampfs, der längst seine Guerillauniform gegen einen Adidas-Trainingsanzug eingetauscht hat, im Schaukelstuhl auf der Veranda sitzt, den Blick auf die Karibik gerichtet hält, auf der linken Seite ziehen die dichten Rauchschaden der längsten Zigarre der Welt empor, in seiner rechten Hand hält er ein Glas halbvoll mit Rum. Es sei ihm gegönnt.