Rocío Silva Santisteban im Gespräch über Machismo und Gewalt und in Peru

»Der Machismo ist extrem stark tradiert«

Rocío Silva Santisteban ist eine peruanische Journalistin und Schriftstellerin. Sie ist Vorsitzende der peruanischen Menschenrechtskoordination und schreibt eine Kolumne für die Tageszeitung »La República«.

Der ehemalige Präsident Alberto Kenya Fujimori verbüßt derzeit eine 25jährige Haftstrafe wegen Korruption und der Genehmigung von Todesschwadronen während seiner Präsidentschaft von 1990 bis 2000. Nach derzeitigem Stand soll er 2032 aus der Haft entlassen werden. Dennoch sorgt die peruanische Justiz immer wieder für Empörung. Mitte August haben die Richter des Obersten Gerichtshofs die Verurteilung des inhaftierten Fujimori wegen Veruntreuung aufgehoben, trotz zahlreicher Beweise dafür, dass er Boulevardmedien bezahlt hat, um seine politischen Gegner zu verleumden. Ende Juli hat das gleiche Gericht die Klage von Opfern von Zwangssterilisationen gegen den ehemaligen Präsidenten abgewiesen. Muss Perus Justiz noch dazulernen?
Unsere Justiz ist überaus langsam, viele Richter sind korrupt und oft unsensibel gegenüber den Opfern. Das hat in vielen Fällen Wut hervorgerufen, denn in den beiden genannten Verfahren gibt es zahlreiche Beweise. So hat eine Kommission des peruanischen Kongresses bereits 2002 in einer Studie festgehalten, dass 314 605 Frauen im Rahmen des Programms zur Familienplanung in der Regierungszeit von Alberto Fujimori sterilisiert wurden. Der nationale Ombudsrat hat in einem Bericht die Zahlen konkretisiert: Demnach wurden zwischen 1996 und 2001 in Peru 272 028 Frauen und 22 004 Männer sterilisiert. Allerdings weiß niemand genau, wie viele gegen ihren Willen und zum Teil mit Gewalt sterilisiert wurden – aber es wurden vor Beginn des Prozesses mehr als 2 000 Fälle von gewaltsamen Sterilisationen dokumentiert.
Also fehlte es nicht an Beweisen?
Nein, Beweise für das Leid der Frauen und für die staatliche Politik, die darauf abzielte, vor allem indigene Frauen unfruchtbar zu machen, gibt es ausreichend. Die Ermittlungen gegen den ehemaligen Präsidenten Fujimori und seinen Gesundheitsminister dauern schon seit mehr als 14 Jahren an und sechsmal wurde der Fall schon archiviert. Das ist ein Skandal.
Wie kommt es dazu, dass die Klage der zwangssterilisierten Frauen abgewiesen wurde? Schließlich haben internationale Menschenrechtsorganisationen den Fall beobachtet.
Das ist schwer zu beantworten. Zum einen haben wir es mit den schon angesprochenen Strukturen in der Justiz zu tun, zum anderen ist Peru eine Gesellschaft, die durch die Diskriminierung von Frauen und noch stärker von indigenen Frauen geprägt ist. Fast alle der Frauen, die zwangssterilisiert wurden, sind indigene Frauen. Sie wurden nicht gefragt, sondern einfach sterilisiert, nachdem sie im Krankenhaus entbunden hatten. Dafür haben viele Ärzte eine Prämie erhalten.
Haben Sie Hoffnung, dass die neue Regierung unter Präsident Pedro Pablo Kuczynski in diesem Fall aktiv werden wird?
Hoffnung ja, aber bisher hat es nicht mehr als die Ankündigung gegeben, dass es eine Kommission geben soll – doch das war vor dem Urteil von Ende Juli.
Am 14. August hat der Ende Juli vereidigte Präsident an den Demonstrationen gegen Gewalt gegen Frauen teilgenommen, zu denen unter dem Motto »Wer eine anfasst, fasst alle an« Zehntausende Menschen kamen. Ist das ein positives Signal?
Ja, aber ich denke, dass wir Frauen selbst weiter aktiv sein müssen, nicht lockerlassen dürfen. Wichtiger als die Teilnahme des Präsidenten, einiger Minister und Abgeordneter ist die Teilnahme von unglaublich vielen Menschen, von Frauen, Kindern und auch Männern. Das stimmt optimistisch, und es waren auch viele indigene Frauen vertreten – wir kommen voran.
Wie ist die Lage der Frauenrechte in Peru? Sind Frauen dort sicher?
Nein, die Statistiken belegen, dass Gewalt gegen Frauen ein gravierendes Problem der peruanischen Gesellschaft ist – Peru führt die Statistiken der Gewalt gegen Frauen in Südamerika an. Wir haben ein großes Problem mit intrafamiliärer Gewalt und die Dunkelziffer ist hoch. Den offiziellen Zahlen aus dem Ministerium für Frauen zufolge wurden dieses Jahr bereits 54 Frauen von Männern ermordet, hinzu kommen 118 registrierte Mordversuche. Die zuständige Ministerin Ana María Romero-Lozada hat darauf hingewiesen, dass Peru weltweit die Nummer drei bei gewaltsamen Übergriffen auf Frauen ist. Der peruanischen Ombudsstelle zufolge werden landesweit jeden Monat zehn Frauen von ihren Partnern getötet – seit 2011 wurden 498 Opfer registriert. Doch Frauenorganisationen gehen von deutlich höheren Zahlen aus, denn nicht jede Gewalttat wird angezeigt.
Es heißt, dass die Gewalt gegen Frauen in abgelegenen Regionen weiter verbreitet ist. Als Beispiel wird etwa die Gewalttat eines Mannes in Ventanilla in der Provinz Callao genannt. Anfang August schlug er seine Partnerin mit einem Ziegelstein auf den Kopf und verletzte sie lebensbedrohlich, nachdem sie ihm ein Essen serviert hatte, das ihm nicht passte.
Die Gewalt gegen Frauen und der Machismo sind ein nationales Problem, kein lokales. Gleichwohl ist Gewalt gegen Frauen auch ein Phänomen in abgelegenen Regionen, wie der Amazonasregion oder in Teilen des Hochlandes.
Die Justiz scheint auch ein Teil des Problems zu sein.
Ganz bestimmt, deshalb zog der Demonstrationszug in Lima auch am Justizpalast vorbei und kritisierte die Richter. Ob die letztlich begriffen haben, dass sie Teil des Problems sind, weil sie sich immer wieder unsensibel gegenüber den Opfern von Gewalt und vor allem sexueller Gewalt verhalten, weiß ich nicht. Es kommt immer wieder zur Stigmatisierung der Frauen, die Opfer sexueller Gewalt wurden, es gibt Dutzende von Beispielen. Das sorgt für Empörung bei Frauen- und Menschenrechtorganisationen.
Einige Richter grüßten die Demonstrierenden aber auch.
Ja, und genau deshalb denke ich, dass längst nicht alle begriffen haben, welche Rolle sie spielen.
Was ist nötig, damit Frauen in Peru sicherer leben können?
Ein Mentalitätswandel, denn der Machismo ist in Peru extrem stark tradiert, er ist in der Werbung genauso wie in den Medien präsent. Das ist ein gravierendes Problem. Das andere Problem ist die Tatsache, dass gern nach schärferen Gesetzen geschrien wird, aber die Gesetze sind nicht so schlecht – sie müssen nur angewandt werden. Die Strafen, die gegen Täter bei Gewaltverbrechen an Frauen und Kindern verhängt werden, liegen oftmals unter den gesetzlichen Vorgaben, oft werden sie auf Bewährung ausgesetzt. Für die Opfer ist das bitter und erniedrigend.
Anlass der Proteste vom 14. August waren ja unter anderem einige drastische Fälle von Gewalt gegen Frauen in den vergangenen Wochen beziehungsweise das unverhältnismäßig geringe Strafmaß der Täter. Wie haben Sie die Berichterstattung in Peru über die Proteste wahrgenommen?
Vieles war positiv, aber es gab auch Videos und Berichte von Journalisten aus abgelegenen Regionen, die gegen die Demonstrationen waren und negativ berichteten. Auch das ist Teil der peruanischen Realität. Deshalb ist es so wichtig, gegen den Machismo zu arbeiten. Wir brauchen mehr Auseinandersetzung, mehr Information an den Schulen, mehr Diskussion. Ein weiteres Beispiel: Als Reaktion auf den Slogan »Nicht eine mehr«, mit dem auf die Gewalt gegen Frauen in Peru aufmerksam gemacht wird, hat eine Gruppe von Männern für den 3. September unter dem Slogan »Nicht einer mehr« einen Marsch gegen die Ausbeutung von Männern durch Frauen angemeldet. Die Realitäten in Peru spotten manchmal jeder Beschreibung.