Amat Escalante über das Filmemachen in Mexiko

»Ich möchte kein europäisches Autorenkino machen«

Beim diesjährigen Sarajevo-Filmfestival wurde Amat Escalante mit dem Ehrenpreis ausgezeichnet. Die »Jungle World« erhielt die Gelegenheit, mit dem mexikanischen Regisseur zu sprechen.

Haben Sie eine Erklärung, warum ausgerechnet Sie beim Sarajevo-Filmfestival geehrt werden?
Ich war in der Vergangenheit schon mehrere Male hier. Von meinem ersten Spielfilm »Sangre« an wurden alle meine Filme hier gezeigt. Der Festivaldirektor Mirsad Purivatra unterstützt meine Arbeit, meine künstlerische Idee. Für mich ist es eine große Ehre, hier dabei zu sein, wenn ich die Liste meiner Vorgänger sehe.
Denken Sie, dass es neben der persönlichen Wertschätzung des Festivaldirektors auch einen Bezug Ihrer Filme zur jüngeren Geschichte Sarajevos gibt?
Vielleicht. Meine Filme greifen ja durchaus soziale Themen wie Ungerechtigkeit, Korruption und Folter auf. Es geht um Menschen, die nicht in der Lage sind, sich selbst zu verteidigen. Aber auch Opfer, die versuchen, keine Opfer zu sein. Das könnte hierhin passen.
Was für ein Publikum erreichen Ihre Filme in Mexiko?
Mein letzter Film »Heli« wurde nur in rund 30 Kinos in Mexiko gezeigt. Dennoch fand er viel Aufmerksamkeit und Anerkennung. Die Menschen haben den Film so rezipiert, wie ich mir das gewünscht habe, nämlich als relevant für die Gegenwart und die Geschichte Mexikos und als emotionale Erfahrung. Er erzählt aus einer persönlichen Perspektive von der Gewalt, die wir alle aus den Medien kennen, in Mexiko und überall auf der Welt.
Doch warum lief »Heli« nur in 30 Kinos in Mexiko?
Das ist ein Verteilungsproblem. Mexiko ist nach den USA der zweitwichtigste Absatzmarkt für Hollywood. Der Einfluss der zwei großen Kinoketten Cinemex und Cinépolis ist sehr groß. Sie können verhindern, dass Gesetze zur Förderung mexikanischer Filme konzipiert werden. Ich habe dagegen nicht die Möglichkeit, dass meine Filme in Tausenden von Kinos laufen. Der erfolgreichste Film in Mexiko lief vor drei Jahren in 2 500 Kinos. Das war eine Komödie. Dieses Genre hat gerade sehr großen Erfolg in Mexiko. Das ist auch ein Grund, warum »Heli« relativ erfolgreich war. Viele Menschen wollten mal wieder etwas anderes als eine Komödie sehen.
Was treibt Sie beim Filmemachen an?
Ich versuche, Filme zu machen, die ich selbst gerne sehen würde. In Mexiko muss ich dafür eben auch selbst produzieren. So habe ich nicht den Druck, der auf mir lasten würde, wenn meine Arbeit von einem großen Unternehmen überwacht würde. Auf solche Weise Filme zu produzieren, würde mich verrückt machen. Ich hoffe, das nie tun zu müssen. So muss ich zwar einen Haufen Geld selbst bezahlen, doch bewahre mir meine Freiheit.
Was können junge mexikanische Filmemacher tun, um mehr Zugang vor allem zum mexikanischen ­Publikum zu bekommen, ohne dabei Kompromisse bei ihrer Arbeit einzugehen?
Das ist schwierig. Ich glaube, ich bin die falsche Person für diese Frage. Die erfolgreichen Regisseure machen romantische Komödien und wenden viel Geld fürs Marketing auf. Wie überall auf der Welt haben solche Filme großen Erfolg. Wer also an einem breiten Publikum interessiert ist, sollte auf Sexkomödien setzen.
Aber wie macht man einen anspruchsvollen Film?
Die Menschen sollten sich mit der Geschichte identifizieren können, sie sollte reale Erfahrungen berühren. Wie bei »Heli«, der uns in unserer gegenwärtigen Situation zeigt. Und es sollte in einer eigenen Art und Weise erzählt werden. Dann kann es attraktiv für das Publikum sein.
Vor allem Ihr erster Film »Sangre« erinnert stark an Rainer Werner Fassbinder: lange Einstellungen von Menschen, die kaum sprechen und banale Dinge tun.
Sie haben Recht. Die erste Szene in »Sangre« ist sogar direkt dem Anfang von Fassbinders »Liebe ist kälter als der Tod« entnommen. Aber auch Werner Herzogs und vor allem Fritz Langs Werk inspirierten mich sehr. So visuell wie Langs erster Tonfilm »M« versuche auch ich, meine Geschichten zu erzählen. »M« besteht ja fast nur aus Bildern – die Kamera fliegt, kommt durchs Fenster hinein und solche Sachen. Wie Lang dazu den Ton einsetzt, ist so überraschend und großartig. Das berühmte Pfeifen des Mörders (Escalante pfeift das Peer-Gynt-Zitat) war das erste Mal, dass Lang in einem seiner Filme Ton einsetzte. Genial.
Kann diese Art des Filmemachens die mexikanische Realität überhaupt adäquat beschreiben? Oder liegt Ihr Fokus nicht doch auf dem europäischen Autorenkino?
Ich möchte kein europäisches Autorenkino machen, sondern versuche, die Wirklichkeit der Charaktere in meinen Filmen zu finden. Wie das Paar in »Sangre« in seiner scheinbar unausweichlichen Situation miteinander agiert, steht für die ganze Gesellschaft.
Der Protagonist trinkt zum Beispiel den in Mexiko sehr populären Orangensaft Jumex, der dort allgegenwärtig mit blonden, blauäugigen Weißen beworben wird. Wie Diego in »Sangre« sind die meisten Menschen in Mexiko dunkelhäutig und haben wenig Geld. Doch die Werbung sieht aus wie in Deutschland. Ob für Windeln, Kartoffelchips, Milch oder Coca Cola – alles wird mit europäisch aussehenden Menschen beworben, mit einem Image der Perfektion. Das demoralisiert und führt zu dem Rassismus und dem Selbsthass, von denen Mexiko geprägt ist. Das geht 500 Jahre zurück, als die Spanier in das Land einfielen, und setzt sich heute in der Werbung fort. Später entsorgt Diego seine tote Tochter im Müll. Übrig bleiben Leere und das Gefühl der Wertlosigkeit. Menschen versuchen, sich durch Konsum aus der Unterdrückung zu befreien, und am Ende bleibt nur Müll übrig.
Was möchten Sie mit Ihren Filmen erreichen?
Ich will die Menschen mit meinen Filmen nicht verändern oder ihnen zu einem bestimmten Bewusstsein verhelfen. Ich mache vielmehr ein Angebot zur Diskussion über die gesellschaftlichen Verhältnisse in Mexiko. Die Medien tun das nur unzureichend. Es bedarf dazu einer persönlichen Sicht eines Menschen. Und ich drücke mich in meinen Filmen eben sehr persönlich aus.