Der Film »Comrade, where are you today?«

Lehrgang mit Decknamen

Für ihren Dokumentarfilm »Comrade, where are you today?« hat die finnische Regisseurin Kirsi Marie Liimatainen Studenten getroffen, die 1988 mit ihr einen Lehrgang zu Theorie und Praxis des Marxismus-Leninimus in der DDR belegten.

»Wie sucht man Menschen aus Südafrika, Chile, dem Libanon und Nicaragua, die in einem Land studierten, das verschwunden ist?« fragt Kirsi Marie Liimatainen am Anfang ihres Films. Was wurde aus diesen Jugendlichen aus 80 Ländern, mit denen sie 1988 bis 1989 am Lehrgang zur »Theorie und Praxis des Marxismus-Leninismus« an der Jugendhochschule »Wilhelm Pieck« teilnahm? Wie viele andere finnische Arbeiterjugendliche zog es Liitmatainen damals in die DDR.
Liimatainens Großmutter war in der KP, ihre Eltern gehörten zum Umfeld der Partei, sie selbst wurde im Alter von acht Jahren Mitglied der Jungen Pioniere, der Kinderorganisation der KP. In ihrer Herkunftsstadt Tampere hatte sie als Jugendliche Häuser besetzt. Mit dieser Vorgeschichte fand sich die damals 20jährige in der Nähe Ostberlins wieder, wo sehr unterschiedliche Milieus aufeinandertrafen: Funktionäre und Befreiungskämpfer. Denn hier wurde auch der Nachwuchs für die Nomenklatura der DDR ausgebildet, die Funktionäre für die »Kampfreserve der Partei«, wie die staatsnahe Jugendorganisation FDJ im Funktionärsjargon genannt wurde. Nach dem Lehrgang konnte man FDJ-Sekretär in den Betriebs-, Kreis- oder Bezirksleitungen werden.
»Viele der gefundenen Ehemaligen aus dem Lehrgang wollten nicht in dem Film vorkommen«, erzählt Liimatianen gegenüber der Jungle World. »Ihr linkes Engagement bereuten sie nicht. Aber dass sie in der DDR studiert hatten, hielten sie im Nachhinein für einen Fehler.« Vor dem Zusammenbruch der DDR wollten viele das Ausmaß der Un­gerechtigkeiten nicht wahrhaben. »Noch in den Achtzigern hielt man vieles für ›West-Propaganda‹, auch bei uns in Finnland«, erinnert sich die Regisseurin. »Nach der Wende konnte man dann endlich auch in linken Zeitungen die Wahrheit lesen.«
Mit Bildern aus der Kindheit der Regisseurin beginnt »Comrade, where are you today?«, für den sich die Regisseurin auf Spurensuche begeben hat. Wir sehen Jahre später bei ­einem Treffen vom »Freundeskreis der Jugendhochschule ›Wilhelm ­Pieck‹ e. V.« wieder der die Tradition pflegen will »für Frieden, Freundschaft und Solidarität« und die denkmalgeschützte Einrichtung erhalten will. Der Zustand der Gebäude zeigt, wer den Kalten Krieg gewonnen hat. Das Gelände liegt brach, die Jugendhochschule wurde wenige Monate nach dem Fall der Mauer geschlossen.
Nichts erinnert an die revolutionäre Stimmung von damals, die man auf den Archivbildern nur erahnen kann. Kämpferische Kundgebungen auf dem Hochschulgelände sind zu sehen, vermummte Teilnehmer ballen ihre Fäuste, rufen Parolen und schwenken rote Fahnen. Viele der Studierenden kamen aus anderen Ländern, in denen kommunistische Organisationen oft im Untergrund gegen Diktaturen kämpften.
Wenn nicht gerade Unterricht in »Wissenschaftlichem Kommunismus« oder »Politischer Ökonomie« anstand, tauschte man sich über die Erlebnisse in den Herkunftsländern aus oder diskutierte im Wohnheim, der Bar oder dem Restaurant über Vorstellungen einer besseren Zukunft. Ein intensives gemeinsames Leben auf Zeit, für ein Jahr. Einmal, erzählt Liimatainen, habe der junge ANC-Kämpfer Duma aus Südafrika, in der Bar im Gespräch mit jemandem sein Hemd hochgezogen, alle verstummten und sahen seine mit Narben übersäte Haut. Als das Studienjahr im Sommer 1989 endete, verteilten sich die Studenten wieder in der ganzen Welt.
Diese Teilnehmer des Lehrgangs zu finden, das war die größte Hürde für Liimatainen am Anfang ihrer Suche. Fotos gab es kaum, viele Teilnehmer hatten Decknamen. In den Unterlagen, die Liimatainen in einem Archiv findet, waren Klarnamen zum Schutz der Jugendlichen geschwärzt.
Doch die Regisseurin blieb hart­näckig und fand schließlich fünf ehemalige Mitschüler: Sie reiste nach Bolivien zu Nidia. Beide besuchten Esteban in Chile. Es ging in den ­Libanon und nach Südafrika, wo sie ihren ehemaligen Mitschüler Duma unter seinem richtigen Namen Themba zu finden versucht.
In Dumas Geschichte spiegelt sich die Entwicklung Südafrikas nach 1989, in Nidias die Boliviens. Nidia hieß in der Jugendhochschule Lucía, sie stammt aus einer Bergarbeiter­familie in Potosí, ihr Vater beteiligte sich an betrieblichen Kämpfen. Zu Archivbildern von Streiks und Demonstrationen berichtet Nidia, wie sie als Kind die letzte Militärdiktatur in Bolivien erlebte, später Mitglied der Jugendorganisation der KP wurde und schließlich an der Wilhelm-Pieck-Schule landete. In dem Lehrgang sei es nur um Klassen gegangen, nicht um die Rechte der indigenen Völker, erklärt Nidia. Einerseits sieht sie sich als Indigene, andererseits als Kommunistin ohne Partei, als Kämpferin für gleiche Rechte und kritisiert Evo Morales, den aus der Bewegung für den Sozialismus hervorgegangenen Präsidenten des Landes. Sein Amtsantritt 2006 gelte zwar als symbolischer Bruch in der Kontinuität rassistischer Ausgrenzung, die Rechte der Indigenen missachte er trotzdem und lasse zu, dass für Bergbaukonzerne eine Autobahn quer durch ein von Indigenen bewohntes Naturschutzgebiet gebaut werde. Gemeinsam mit Nidia fliegt Liimatainen nach Chile zu Marcelino, der weiterhin aktives Mitglied der KP ist. Wie auch Nidia kann er sich eine Diktatur des Proletariats nicht vorstellen. Bei seiner Arbeit in einer Autowerkstatt gefilmt, sagt er lächelnd in die Kamera, so sehe also das Leben eines Kommunisten aus.
Auf sterile Interviewsituationen hat die Regisseurin weitgehend verzichtet und ihre Protagonisten im Alltag begleitet. Die gemeinsame Vergangenheit in der Hochschule spielt weiterhin eine Rolle, genauso wichtig sind jedoch die Einschätzungen der Porträtierten zur Lage im jeweiligen Land – und zum Status quo der Linken und des Aufbegehrens im 21. Jahrhundert.
Nabil aus dem Libanon beurteilt es als schweren Fehler, dass die KP sich entschieden hat, im Bürgerkrieg bewaffnet mitzukämpfen. Die Menschen, mit denen über ein besseres Leben ohne Ausbeutung gesprochen werden sollte, litten unter den Schießereien. Ghazwan lebt im von der Hizbollah beherrschten Süden und spricht von der Notwendigkeit einer säkularen Revolution, von einer Befreiung vom fundamentalistischen Rigorismus. Wie Nabil kritisiert er radikal das Sektenwesen: Jede religiöse Sekte sei auch ihre eigene Partei, es gäbe nichts anderes. Und statt Worte zu wechseln werde hier gleich geschossen, merkt eine seiner Schwestern an. Die KP sei aufgerieben, sie habe sich verkauft, sagt Ghazwans verbitterter Vater. Es gäbe keine linke Bewegung mehr, die gegen das soziale Elend vorgehe. Als Nabils Familie zu einem Picknick ins Grüne aufbricht, fangen zwei Gruppen dort unvermittelt eine Schießerei an. In dem einen Nachbarland herrscht Bürgerkrieg unter einem brutalen Präsidenten, den die KP früher als Bündnispartner betrachtete. Das andere, demokratische Nachbarland kommt in den Gesprächen nur als ehemaliger Invasor vor. Es war klar, dass sie gegen die israelische Invasion kämpften, sagt Nabil. Die Terroranschläge, die Israel zu der Invasion 1982 veranlasst haben, erwähnt er nicht.
Die Stärke des Films ist zugleich seine Schwäche. Die persönliche Sicht der Protagonisten auf ihre Herkunftsländer, ihre Kritik und ihre Wünsche werden gut veranschaulicht – eine andere Perspektive fehlt. »Comrade, where are you today?« beschränkt sich somit auf die titelgebende Fragestellung und folgt dem Werdegang der ehemaligen Lehrgangsteilnehmer. Das ist interessant, eine Geschichte linker Bewegungen ist es jedoch nicht geworden.

Comrade, where are you today? (Finnland, Schweden 2016). Buch und Regie: Kirsi ­Marie Liimatainen. Kinostart: 18. August