Der Kommunismus hat nicht gesiegt

Zukunft in Ruinen

Die immer gleichen Parolen vom Sieg des Kommunismus konter­karierten die erstarrten Strukturen im letzten Jahrzehnt der DDR. Glasnost und Perestroika? »Solange wir an unsere Zukunft glauben, brauchen wir uns vor unserer Vergangenheit nicht zu fürchten«, glaubte der Dramatiker Heiner Müller 1986. Der Slogan, der das Lebensgefühl der Ost-Punkszene zum Ausdruck brachte, lautete: »Too much future«.

In meiner Kindheit gab es eine vielbeschworene Zukunft – den Kommunismus – und einen klaren Feind – den Kapitalismus. Jeden Mittwoch heulten die Sirenen vom Spritzenhaus des Feuerwehrplatzes. Punkt ein Uhr schwoll der Ton an, hielt ein paar Sekunden und schwoll wieder ab. Wenn der Angriff käme, sollten alle Bescheid wissen, gefechtsbereit sein oder in Deckung gehen. Und da kaum einer im Besitz eines privaten Telefonanschlusses war, mahnte uns eben der wöchentliche Probealarm zu Wachsamkeit. Meine Schule lag in einem Neubaugebiet und war ebenfalls mit einer Sirene ausgestattet. Im Herbst 1983, wir lernten gerade »Frieden« in Schönschrift zu schreiben, brach das Geheule schon vormittags los, aber diesmal hielt es lange und dröhnte bedrohlich: Angriff! Versiert verteilte unsere Klassenlehrerin jene Masken, die wir an einem sonnigen Pioniernachmittag während unseres dritten Schuljahres angefertigt hatten. Antreten! Abmarsch!
Wir hatten die Feinstrumpfhosen unserer Mütter zerschnitten, eine begehrte Mangelware in der DDR. Umso ehrfurchtsvoller trugen wir ihre vielfach geflickten Schätze nun zur Gefahrenabwehr um Mund und Nase. Einige meiner Mitschüler erkannte ich gar nicht wieder, andere fürchteten sich und weinten. »Das ist doch gar kein echter Atombombenangriff«, tröstete unsere Klassenlehrerin. Wir marschierten in den Keller eines nahegelegenen Blocks der nach Marianne Grunthal benannten Hauptstraße. Die Antifaschistin war 1945 in Schwerin nur zwei Stunden vor Eintreffen amerikanischer Truppen von SS-Männern erhängt worden. Sie hatte vom Tod Hitlers erfahren und lauthals »Gottsei­dank, jetzt gibt es Frieden!« gerufen und war daraufhin von einem weniger friedliebenden Ohrenzeugen verraten worden. Doch daran dachten wir nicht, als wir eng an eng und immer stärker nach Luft ringend in dem kahlen Keller saßen. Eher an Hiroshima, den Atompilz und Menschen, denen die Haut von den Leibern fällt. Schon ein Jahr später, 1984, wurde ich in der Pionierrepublik »Wilhelm Pieck« aufgeklärt: Die USA hatten unter Ronald Reagan mit dem Aufbau eines Abwehrschirms gegen Interkontinentalraketen begonnen. In der BRD. Gleich drüben. Die Sprengköpfe zielten direkt auf uns. SDI, »Star Wars«, diese verbrecherischen Imperialisten wollten die endgültige Vernichtung aller fortschrittlichen Kräfte. Doch nur über unsere winzigen Leichen!
Das Bedrückende an diesem Szenario wich mit den Jahren einer gewissen Gewöhnung. Es löste sich bei mir in dem Maße auf, in dem ich darin unterrichtet wurde, Granaten weit zu werfen und mit dem Großkalibergewehr entfernte Ziele punktgenau zu treffen. Wenn ich diesen schicksalhaften Kampf der gesamten Menschheit schon mit meinem Leben bezahlen müsste, dann könnte ich mich wenigstens wehren und den einen oder anderen Feind mit ins Grab nehmen. Vorwärts und nicht vergessen! Kurz vor den Winterferien marschierten wir dann in den nahegelegenen Wald zum »Manöver Schneeflocke«, wo uns uniformierte Männer und Frauen bei stürmischen Winden geduldig beibrachten, mit Karte und Kompass umzugehen, Bäume zu bestimmen und Fährten zu verfolgen – eben alles, was es braucht, um im Partisanenkampf gegen einen übermächtigen Feind zu bestehen.
»Selbstschuss und ein Minenfeld, damit es uns hier gut gefällt/in unserem schönen Staat «, brüllten etwa zur gleichen Zeit die Fans der Punkband Namenlos lautstark in den Himmel über Ostberlin. Wegen »öffentlicher Herabwürdigung staatlicher Organe« landeten die Volljährigen unter den Bandmitgliedern im Gefängnis. Genosse Mielke, Chef der Staatssicherheit, hatte allen Diensteinheiten höchstpersönlich »Härte gegen den Punk« befohlen. Die kleine, aber wachsende Szene wurde unnachgiebig verfolgt, als »asozial« oder »faschistisch« diffamiert und bespitzelt.
Von alldem ahnte ich in meiner Pionierwelt nichts. Wenngleich die bleierne Glocke von Stagnation und Resignation spürbar auch über unserer Provinzstadt lag, die Parolen mit jeder Wiederholung an Gewicht verloren, das rote Fahnenmeer am Ersten Mai die enttäuschten Gesichter der Werktätigen nicht mehr zu überstrahlen vermochte. Genau darauf zielte der opponierende Teil der Jugend ja: »Too much future«. Die Zukunft, die ihnen – bildhaft in Form von Zeittafeln, die unübersehbar in den Unterrichtsräumen hingen – gebetsmühlenartig versprochen worden war, hatte längst die Gegenwart verschluckt. Und es lag kein Trost mehr in ihr. Nur noch ewiges Vertrösten. Das Warten auf den Himmel hatte sich als tägliche Hölle aus Langeweile und Arbeit entpuppt. »Wer die Jugend hat, hat die Zukunft.« Das wussten schon die Nazis. Aber Otze, Pepsi, Grit und Ameise hatten keine Lust mehr, artig zu sein. Jana, Michael, Speiche und Fleck wollten keiner Partei als Kampfreserve dienen. Sie verweigerten den Gehorsam, fanden Zuflucht in Kirchenräumen und Dorfdiscos. Auf dem Weg dorthin passierten sie auch unsere Kleinstadt und ich staunte nicht schlecht über die Möglichkeit, drei miteinander verhakte Sicherheitsnadeln durch eine rosige Wange zu stechen. Ein Bild, das mich so wenig loslassen sollte, wie die Glocke der Lethargie dem Supergau von Tschernobyl am 26. April 1986 standzuhalten vermochte.
»Nach der TASS-Meldung über eine Havarie im Kernkraftwerk Tschernobyl wurden keine Werte der Radioaktivität gemessen, die eine Gesundheitsgefährdung hervorrufen können.« (Meldung des DDR-Rundfunks vom 30. April, also vier Tage nach dem Unfall)
Die tödliche Gefahr war konkret und wehte mit dem Wind von Osten her zu uns hinüber. Im Versuch, der Bevölkerung dies zu verschweigen, wurden letzte Reste an Glaubwürdigkeit mit den 800 000 Liquidatoren, der Stadt Prypjat und einem Viertel Weißrusslands verstrahlt. Für die meisten.
Ende der Achtziger hörte ich endlich Punk – Ostpunk, Westpunk, New Wave – und war elektrisiert. Die Sendung »Parocktikum« des Jugendsenders DT64 gab unangepassten, subversiven, seit mehr als einem Jahrzehnt ungehörten Klängen endlich eine Chance. Ein paar der Ost-Punker hatten sich inzwischen nach Westen abgesetzt, andere sich der wachsenden Naziszene angeschlossen. Sie setzten dem gefühlten »Too much future« die Zombierealität mit Hitler-Büsten und SS-Devotionalien geschmückter Jugendzimmer entgegen, während sich in Berlin noch einmal die Kampfreserven marschierender Pioniere und FDJler zum Fackelmarsch formierten. »40 Jahre Deutsche Demokratische Republik«, so lautete die letzte aller Losungen. Für mich war es die erste Nacht in Ostberlin, draußen, in einer Massenunterkunft im neu entstandenen Hellersdorf, während die Stadt in ihrem Inneren brannte.
Das System war zusammengebrochen. Binnen eines Jahres, die Aussichten waren für Momente so strahlend klar und gut wie nie erschienen, verkleinerte sich der Horizont wieder auf Arbeitsplätze, Kontostände, Wohnorte. Idiotenland. Als ich 1990, zehn Jahre nach Erscheinen der Platte, auf der Fahrt durch zerfallene ostdeutsche Landschaften Fehlfarbens »Ich schau mich um und seh nur Ruinen« hörte, entbehrte das jeder Ironie. »Was ich haben will, das krieg ich nicht. Und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht.« Paul, das war der Versicherungsvertreter vor dem Rathaus in Fulda, wo er einen Stand aufgebaut hatte, um uns Zonis zu begrüßen, indem er uns in Grund und Boden duzte. Die blankgeputzten Straßen und pittoresken Innenstädte des Westens wirkten angsteinflößend. Dieser gelebte Tod war schön und vollendete sich im Bild der blonden Frühstücksfamilie, die für die Rama-Werbung in die Kamera strahlte. Hineinschießen. Kaputtmachen. So sahen die spontanen Impulse aus. Stattdessen kaufte ich im gutsortierten Plattenladen »Standing on a Beach« von The Cure. Und ging tanzen.
Die Zeit flog weiter. Die Reichen wurden reicher. Die Deutschen deutscher. Jedenfalls mancherorts. Doch alles kann sich ändern. Unwahrscheinliches geschieht. Auch, wenn es scheint, als sei die Zukunft nun der Totalität von ­Gegenwart zum Opfer gefallen. Kein Durchdringen. Der Feind mauert. Weltweit. Aktuell empfiehlt uns die Regierung in ihrem ersten Konzept zur zivilen Verteidigung seit 1989: »... einen individuellen Vorrat an Lebensmitteln von zehn Tagen vorzuhalten.« Abschied von morgen? Wohl kaum.
Keine Hoffnung zu haben, ist kein Grund zu verzweifeln. Die Bedrohungen aller Zeiten schweben über uns wie Drohnen über der Wüste. Die Widerständigen aller Zeiten stellen sich dagegen. Auf ihre Weise.