Der Einmarsch der türkischen Armee in Syrien

Der Verlierer steht fest

Der Einmarsch der türkischen Armee in Nordsyrien dient nur vorgeblich der Grenzsicherung und dem Kampf gegen den »Islamischen Staat«. Die türkische Regierung will vor allem ein zusammenhängendes kurdisches Territorium verhindern.

Das Datum für den Vorstoß der türkischen Armee nach Syrien, der 24. August, wurde so gewählt, dass er genau auf den 500. Jahrestag einer Schlacht fiel, in der Sultan Selim I. just in derselben Gegend die Mamluken besiegt hat, wodurch Syrien ein Teil des Osmanischen Reichs wurde. Zwei Tage nachdem türkische Panzer und Kampfflugzeuge begonnen hatten, auf syrischem Territorium zu operieren, eröffnete der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die dritte große Brücke zwischen Europa und Asien, die auf seinen – allerdings schon länger bekannten – Wunsch hin den Namen »Yavuz-Sultan-Selim-Brücke« erhielt. Es geht dabei um denselben Sultan, sein Beiname yavuz bedeutet in etwa »streng«, »grausam«, »kühn«.
War das bewusstes Timing oder reiner Zufall? Und falls es geplant ge­wesen sein sollte, steht es in Zusammenhang mit Träumen von der neo­osmanischen Wiedergeburt eines türkisch-mus­limischen Reiches? Dem ersten türkischen Präsidenten mit eigenem Palast und historisch kostümierter Sultansgarde sind solche Vorstellungen zuzutrauen. Die Türkei hat die Operation »Schutzschild Euphrat« offiziell als Akt der Grenzsicherung gegen den »Islamischen Staat« (IS) und die mit der PKK verbundenen kurdischen Volksvertei­digungskräfte (YPG) in Syrien ausgegeben. Allein diese Behauptung wirft eine Menge Fragen auf. Drei Jahre lang steht der IS nun schon weitgehend unbehelligt an der türkischen Grenze. An Provokationen hat es nicht gefehlt. Da gab es zunächst die Geiselnahme des Personals des türkischen Konsulats in Mossul im Juni 2014. In der Folgezeit verübte der IS 14 Anschläge in der Türkei, bei denen 266 Menschen starben. Die türkische Kleinstadt Kilis wurde im April und Mai dieses Jahres vom IS mit Raketen beschossen; 21 Einwohner und syrische Flüchtlinge kamen dabei ums Leben.
Nach drei Jahren schienen die Tage des IS an der Grenze endlich gezählt. Die Terrormiliz wäre wohl in den kommenden Wochen von den YPG verdrängt worden. Dass die Türkei mit einer kurdischen Organisation Probleme hat, die Plakate des PKK-Anführers Abdullah Öcalan aufhängt, ist nachvollziehbar. Andererseits hat die Türkei bereits über einige hundert Kilometer eine gemeinsame Grenze mit dem von den YPG beziehungsweise ihrem politischen Arm, der Partei der demokratischen Union (PYD), dominierten Gebiet.
Ein seit langem erklärtes Ziel der türkischen Politik ist es, den Zusammenschluss des kleinen westlichen kurdischen Kantons Afrin mit dem übrigen kurdischen Gebiet um jeden Preis zu verhindern. Der Zusammenschluss wäre für die Kurdinnen und Kurden ein großer Gewinn, aber wohl kaum der politische Moment, ab dem das Experiment Rojava aus türkischer Sicht untragbar würde. Die türkische Regierung sieht in Rojava bereits jetzt eine Bedrohung. Die PYD hat bisher auch in keiner Weise den Versuch unternommen, die Türkei durch die Betonung einer syrisch-kurdischen Identität zu besänftigen. Allein der Name »Rojava« (Westen) legt den Gedanken nahe, ein »Osten« solle noch hinzukommen.
Zu den Prioritäten der türkischen Politik gehört es, die Entwicklung in Syrien so zu beeinflussen, dass sich kein autonomes Syrisch-Kurdistan halten kann. Doch selbst wenn man nicht so weit denkt, ist klar, dass der jetzige Vorstoß ein Unternehmen mit langfristiger Perspektive ist. Um die kurdischen Kantone zu trennen, muss die Türkei dauerhaft das dazwischen liegende Territorium kontrollieren.
Das nötige Personal dafür haben die türkischen Truppen gleich mitgebracht, ihre eigene »Freie Syrische ­Armee« (FSA). Die echte FSA war aus Deserteuren der syrischen Armee zu Anfang des syrischen Bürgerkriegs entstanden. Doch mit der Zeit drängten sich andere, meist islamistische Op­positionsgruppen mit ausländischer Unterstützung in den Vordergrund. Ob es überhaupt noch Reste der alten FSA gibt, ist umstritten. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte über die syrische FSA im Oktober 2015, sie sei ein »Phantom«. Wenig später erklärte er jedoch die Bereitschaft Russlands, die FSA mit Luftangriffen gegen den IS zu unterstützen.
Es handelt sich bei den türkischen Hilfstruppen um die Kämpfer einiger kleinerer islamistischer und turkmenischer Rebellengruppen. Anstatt an der für die Opposition viel wichtigeren Schlacht um Aleppo teilzunehmen, wurden sie im Februar über türkisches Gebiet in die Umgebung der syrischen Stadt Azaz gebracht. Sie sollten den kurdischen Vormarsch stoppen und dann den vom IS gehaltenen Korridor zwischen den beiden kurdischen Territorien einnehmen. Doch trotz türkischer Unterstützung wurde die Truppe vom IS geschlagen.
Kämpfer von acht dieser Rebellengruppen wurden nun unter der Bezeichnung »Freie Syrische Armee« nach ­Jarablus gebracht, um erneut von Süden her zu versuchen, was ihnen von Norden her nicht gelungen war. Diesmal erhielten sie direkte Unterstützung durch türkische Panzer, die teilweise aus deutscher Herstellung stammen. Zwischen türkischen und kurdischen Truppen eingeklemmt, zog es der IS diesmal vor, sich bereits vor dem Angriff zurückzuziehen. Kämpfe gab es zunächst vor allem mit den Syrian Democratic Forces (SDF) – einem Bündnis aus arabischen und anderen Milizen, an dem auch die YPG beteiligt sind –, die sich aber wegen des Einsatzes von Panzern und Kampfbombern ebenfalls zurückziehen mussten.
Rasch wieder zurückziehen, wie es einige Experten sagen, kann sich die Türkei nicht, schon weil ihre FSA auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein dürfte, sich allein zu behaupten. In einer Rede im grenznahen Gaziantep am Sonntag verglich Erdoğan den Einsatz in Syrien mit der Anwesenheit von türkischen Truppen im Irak. Diese sind dort seit Jahren gegen den erklärten Willen der irakischen Regierung. Außerdem sagte der türkische Präsident, dass auch weitere Gebiete okkupiert werden könnten. Der Kampf werde fortgesetzt, »bis die Wurzeln der Terrororganisation ausgerissen sind« – gemeint sind damit die YPG. Verbündete prophezeiten einen Vormarsch bis Kobanê, das sie in »Quelle des Islam« umbenannten.
Erdoğans Worte muss man nicht als unmittelbare Ankündigung verstehen. Noch gibt es die US-amerikanischen Truppen und die Übernahme eines größeren Gebietes wird auch für die Türkei schwierig. Doch die dauerhafte Trennung der Kurdengebiete bedeutet, dass die Türkei in einem Territorium von etwa 7 000 Quadratkilometern Fläche eine von ihr militärisch, ökonomisch und politisch abhängige Verwaltung aufbauen muss. Unter Berufung auf Militärkreise meldete die Zeitung Cumhuriyet, dass es auch Pläne für eine »Ansiedlung« gebe. Die Türkei könnte Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens dort ansiedeln. Das dürfte auf eine Erhöhung des arabischen Bevölkerungsanteils oder sogar eine gezielte Turkmenisierung hinauslaufen. Knifflig wird es, sollte die Türkei dafür EU-Gelder beantragen. Ein solches Gebiet könnte auch Ausgangsbasis für weitere Unternehmungen in Syrien sein. Unter türkischem Schutz könnte hier eine befriedete und relativ prosperierende Region entstehen, was Erdoğan betonen dürfte. Sie könnte als erste Umsetzung neoosmanischer Träume von einem muslimischen Großreich unter türkischer Führung erscheinen.
Für die PYD könnten die Ereignisse ein Weckruf sein, dass sie auch die arabische Bevölkerung in Syrien gewinnen muss und nicht nur einige abhängige Kleingruppen. So wie die PYD aufgestellt ist, als explizit kurdische Partei mit Öcalan als Übervater, dürfte das allerdings schwer werden. Trotz territorialer Einbußen war der türkische Einmarsch für den IS ein strategischer Gewinn. Die USA springen in ihren ­Erklärungen hilflos zwischen ihren verfeindeten Verbündeten hin und her (siehe Kommentar Seite 13). Diese halbe Loyalität der USA führt den Kurdinnen und Kurden auch vor, dass sie eine endgültige Niederlage des IS ebenso zu fürchten haben wie dessen Sieg. Anders als Russland vergessen die USA ihre Verbündeten rasch.
Angesichts dieser Entwicklung ist es auch gar nicht widersinnig, dass der IS die Türkei bis kurz vor dem Einmarsch gereizt hat, sich dann aber bemühte, der türkischen Armee nicht zu sehr im Weg zu stehen.