Weibliche Genitalverstümmelung in Dagestan

Brüder im misogynen Geiste

Weibliche Genitalverstümmelung ist auch in der russischen Republik Dagestan verbreitet. Verständnis für die brutale Praxis haben nicht nur islamische Geistliche, sondern auch ein Erzpriester der russisch-orthodoxen Kirche.

Kaum jemand hat das Thema weibliche Genitalverstümmelung mit Russland assoziiert. Jedenfalls bis Mitte August, als die Menschenrechtsorganisation »Russische Rechtsinitiative« einen Bericht vorlegte, der solche Fälle in der Republik Dagestan im russischen Nordkaukasus dokumentiert. Es geht der 2001 in den Niederlanden gegründeten Organisation dabei nicht allein um die Aufdeckung bekannter, von der Öffentlichkeit jedoch weitgehend ignorierter Praktiken. Vielmehr wurden betroffene Frauen, aber auch jene, die die Eingriffe vornehmen, in Interviews aufgefordert, ihre eigenen Einstellungen zu dieser radikalen und schmerzhaften Form der Kontrolle weiblicher Sexualität darzulegen.
Vor einem knappen Jahr verabschiedete die Uno-Vollversammlung eine Resolution, die ihre Mitgliedstaaten zur Unterbindung aller Formen der Gewalt gegen Frauen explizit, einschließlich Genitalverstümmelung, aufruft. Eine Konvention des Europarates, dem Russland seit 20 Jahren angehört, empfiehlt die Einführung detaillierter gesetzlicher Bestimmungen, um eine Strafverfolgung bei partieller oder vollständiger Entfernung weiblicher Geschlechtsorgane zu ermöglichen. Allerdings, so die Autoren des Berichts der Rechtsinitiative, setze sich der russische Staat über alle internationalen Empfehlungen hinweg. Nicht einmal in den offiziellen Berichten aus Russland an die zuständigen Uno-Komitees findet das Thema Erwähnung. Ebenso wenig nehmen sich russische Gerichte der Genitalverstümmelung an.
Stoff für Ermittlungen gäbe es theoretisch zur Genüge, doch existiert kein Problembewusstsein. Die vollständige oder ansatzweise Entfernung der Klitoris bei Mädchen im Alter bis zu drei Jahren wird hauptsächlich in den oftmals nur schwer zugänglichen Bergregionen Dagestans praktiziert und trifft in den sich auf alte Traditionen berufenden Dorfgemeinschaften ­weitestgehend auf Akzeptanz. Zustimmung zu dieser Praxis äußerten in den oft im Beisein männlicher Familienangehöriger geführten Gesprächen selbst Frauen, die sie als Form der Gewalt einstufen. Sie wird durch die weitläufigen Familienverbände eingefordert und gilt als religiöse Pflichterfüllung für eine gute Muslima. Der Umgang mit weiblicher Sexualität bildet keinen Gegenstand offen geführter Diskussionen, sondern gehört in die Privatsphäre. Entsprechend geringer fiel die Bereitschaft aus, dieses Thema überhaupt anzusprechen.
Aus den Bergen ins Flachland übergesiedelte Frauen leisteten sich in Einzelfällen eine abweichende Meinung und gaben an, Beschneidungen seien heutzutage nicht mehr zwingend. Wobei am ehesten wohl jene sich frei äußern können, die durch Heirat mit einem Angehörigen einer anderen ethnischen Gruppe, in der solche Rituale unüblich sind, der Kontrolle durch den eigenen Großfamilienverband entgehen. Denn angesichts der geographischen Verbreitung der Genitalverstümmelung fällt auf, dass diese von An­gehörigen jener Gruppen praktiziert wird, die recht spät zum Islam übergetreten sind. Manche Experten gehen davon aus, bei dem Ritual handele es sich um ein archaisches Überbleibsel, das grundsätzlich mit Religion nichts zu tun habe.
Die Befragung von Ärzten, Juristen, Frauenorganisationen, einiger Behördenvertreter und religiöser Autoritäten in Dagestan ergab ein gemischtes Bild. Von Empörung und Besorgnis bis hin zu völliger Unkenntnis waren alle Positionen vertreten. Manche angefragten Personen verweigerten das Gespräch. Der Imam der zentralen Moschee in der dagestanischen Hauptstadt Machatschkala vertritt die Ansicht, eine Beschneidung müsse unbedingt vor Eintritt der Volljährigkeit erfolgen. Einer seiner Kollegen ­informiert in seiner Sprechstunde darüber, dass es einer Sünde gleichkäme, nicht zu beschneiden. Es braucht jedoch selbst in den abgeschiedenen Regionen Dagestans nicht unbedingt eine rein religiöse Begründung zur Rechtfertigung der Kontrolle über weibliche Sexualität. Eine Frau habe sich anständig zu benehmen und das falle ihr schließlich leichter, wenn ihr die Lust gleich ganz vergehe, so eine verbreitete Meinung.
In diesem Sinne reagierte Ismail Berdijew, der Vorsitzende des Koordinationszentrums der Muslime im Nordkaukasus, auf die Veröffentlichung des Berichts der Rechtsinitiative. »Alle Frauen sollten beschnitten werden«, forderte der Mufti im Gespräch mit der russischen Nachrichtenagentur Interfax. Zwar schreibe der Islam dies nicht vor, aber um gegen das Phänomen der »Unzucht« in der Welt vorzugehen, sei es nötig, die weibliche Sexualität zu beschränken. Außerdem seien Frauen ohnehin erschaffen, um Kinder zu gebären, und eine Beschneidung stehe dem keinesfalls entgegen.
Damit handelte sich Berdijew heftige Kritik ein, auch der Rat der Muftis Russlands verurteilte jegliche Form der Genitalverstümmelung. Unterstützung erhielt der frauenfeindliche Mufti indes vom Erzpriester der russisch-orthodoxen Kirche, Wsewolod Tschaplin, vormals langjähriger Beauftragter für die Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft beim Moskauer Patriarchat. Auf Facebook stand er dem von ihm geschätzten muslimischen Amtsträger bei. Zwar hätten orthodox gläu­bige Frauen, denen sittliche Ausschweifungen ohnehin fremd seien, eine Beschneidung nicht nötig, aber in allen anderen Punkten stimmte er zu – und setzte dem Ganzen noch eins drauf: Jüdischen Männern sei die Beschneidung schließlich erlaubt, während Feministinnen das Gleiche bei Frauen verbieten wollten. »Feminismus ist die Lüge des 20. Jahrhunderts«, so Tschaplin.
In fast 800 Kommentaren ließen sich Befürworter und Kritiker Tschaplins über dessen Thesen aus. Provo­kation ist Tschaplins Metier. Einen Tag nach Veröffentlichung des Berichts über Dagestan ließ er im Radiosender Echo Moskwy anlässlich eines Gesprächs über ein Denkmal für Zar Iwan den Schrecklichen zudem seinen Gewaltphantasien freien Lauf: Bestimmte Menschen könnten und müssten nun einmal getötet werden. Die russische Orthodoxie, so hat es häufig den Anschein, befindet sich auf dem Kriegspfad gegen Andersdenkende, wohin­gegen die Zustände in der russischen Peripherie den Klerus nur am Rande interessieren.