Johan Simons im Gespräch über die Ruhrtriennale und Religionslosigkeit

»Die größte Strafe Gottes ist, dass er nicht existiert«

Johan Simons leitet nun die bereits die zweite Spielzeit der Ruhrtriennale. Im Gespräch erklärt er, warum er nicht an Gott glaubt und wie er das Festival für alle Schichten öffnen will.

Das Motiv der Ruhrtriennale heißt »Seid umschlungen«. In Zeiten des Terrors im Namen der Religion, des Erstarkens rechtspopulistischer Bewegungen und der ökonomischen Krisen eine ambitionierte Aussage. Welche Rolle kann die Kunst dabei noch spielen?
Ich glaube noch immer an die drei Grundwerte, die wir bereits seit der französischen Revolution kennen. Das Wort Brüderlichkeit ist durch die Emanzipation vielleicht nicht mehr zeitgemäß, aber der entscheidende Punkt ist: Wie weit geht die Brüderlichkeit, die Solidarität? Wann wird die jeweilige Freiheit bedroht? Die drei Begriffe stehen jeweils einzeln auch auf der diesjährigen Programmlandkarte, sie sind aber mit einem Fragezeichen versehen: Wie weit können wir gehen, ohne zum Beispiel unsere eigene Freiheit zu opfern?
Der Begriff der Freiheit wird heutzutage inflationär benutzt – auch von Leuten, die meinen, ihre eigene Freiheit zu verteidigen, indem sie andere aussperren. Ist ein kollektiver Freiheitsbegriff, der sich auf eine vermeintlich »freie Welt« bezieht und der verkörpert wird durch wie auch immer geartete »abendländ­ische Werte« überhaupt vereinbar mit Aufklärung und Emanzipation?
Unser Begriff von Freiheit kommt ja aus der Aufklärung, und auch die Emanzipation ist aus dieser Freiheitsidee heraus geboren. Aber leider haben wir den Dialog genau darüber immer mehr eingestellt, auch aus Angst, Dinge zu sagen, für die wir in eine bestimmte Ecke gestellt werden. In der aktuellen Debatte um Geflüchtete ist es besonders schwierig. Am Ende gewinnen häufig die Leute, die einfache Antworten geben, die keinen Zweifel haben und die ihre eigene Kultur mit allen Mitteln verteidigen und alles andere ablehnen. Zu viele Menschen sind ausgeschlossen. Und damit meine ich nicht nur Geflüchtete, die an den Grenzen abgewiesen werden, sondern auch die Bürger. Teilhabe ist wichtig, beide Seiten müssen aber auch miteinander in den Dialog treten wollen. Heute stehen die Namen- und Gesichts­losen – die Fremden – millionenfach an unseren Grenzen. Auch sie haben eine Geschichte. Das führt uns zu der Frage: »Wer sind wir eigentlich?«
Das Stück »Die Fremden« befasst sich ebenfalls mit dem Thema. Es basiert auf dem Roman »Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung« des algerischen Schriftstellers Kamel Daoud. Der Roman ist eine Art Antwort Albert Camus’ »Der Fremde«, in dessen Zentrum der Mord an einem namenlosen Araber durch einen Mann namens Meursault steht. Hätte das Stück auch ohne die politische Entwicklung der vergangenen Jahre auf dem Programm gestanden?
Vielleicht, aber mit Sicherheit anders. Die Inszenierung handelt davon, wie wir versuchen, den anderen, in diesem Fall den Nordafrikaner, zu verstehen, ihn aber aus unserer Perspektive nie wirklich greifen können. Der Autor Kamel Daoud hat mit seinem Roman eine späte Antwort auf Camus gegeben. Haroun, der Bruder des gegetöteten Arabers aus »Der Fremde« ist der Erzähler. Er schildert die Geschichte aus der Perspektive seiner Familie und gibt dem namenlosen Opfer ein Gesicht, eine Biographie, einen Namen. Daoud erzählt damit auch eine Kolonialgeschichte, die sich nicht nur kritisch mit den Besatzern, sondern auch mit den Algeriern befasst. An deren Ende steht auch die Kritik am Glauben und an Religion an sich.
Das Stück selbst spielt auf drei Ebenen: Film, Schauspiel und Musik. Wie sind diese miteinander verwoben?
Die Ebenen sind unabhängig voneinander. Sie beeinflussen sich, bleiben aber autonom. Es geht nicht darum, mit der Musik Gefühle zu provozieren, die die Schauspieler nicht herstellen, oder mit den Videos von Aernout Mik irgendetwas zu illustrieren. Hier haben sich unterschiedliche Künstler mit dem Thema auseinandergesetzt. Die Musik drückt ein gewisses Weltbild aus, sie steht zum Teil stellvertretend für den Kosmos Camus’. Der Filmkünstler Aernout Mik wiederum zeigt zum einen Bilder von der französischen Besatzung in Algerien, von Algeriern und Franzosen, zum anderen einen surrealistischen Film, für den er eine Art Flüchtlingslager gefilmt hat, allerdings mit verdrehten Rollen. Am Ende gibt es manchmal enge situative Verknüpfungen zwischen den Ebenen und manchmal auch nicht – was ­beabsichtigt ist für die Gesamtdynamik. Reinbert de Leeuw hat für die Musik Stücke von György Ligeti, Mauricio Kagel und Claude Vivier aus­gewählt. Alle drei Komponisten waren Außenseiter. Sie gehörten nicht zum Zentrum der europäischen Avantgarde wie etwa Boulez oder Stockhausen und suchten nach anderen Inspirationen. Ligeti hat den Nationalsozialismus und den Stalinismus erlebt und sich von beiden Systemen befreit, was man auch in der Musik hören kann. Kagel hat von Argentinien aus die ganze Welt bereist, auf der Suche nach neuen Einflüssen. Auch Vivier, ein Schüler Ligetis, war ständig auf der Suche nach fremden Einflüssen. Von ihm stammt das Stück »Bouchara«. Das ist ein Ort in Usbekistan, der als die Wiege der europäischen Kultur gilt. Schon Marco Polo hat ihn in seinen Reisetagebüchern erwähnt.
Aufklärung und technischer Fortschritt, die ja auch Teil einer vermeintlichen abendländischen Kultur sind, haben das Elend der Welt nicht beendet, im Gegenteil: Besonders das 20. Jahrhundert steht für Verbrechen und Katastrophen, die im Namen der westlichen Welt stattgefunden haben.
Das 20. Jahrhundert war ein ziemlich grausames Zeitalter. Zweifel sind daher wichtig, auch um die eigenen Werte zu hinterfragen. Oft sind es selbsternannte politische oder religiöse Führer, die Menschen grausam bestrafen, foltern, ermorden. Jeder kann seine eigenen Werte verteidigen. Ich zum Beispiel möchte meine eigene Freiheit verteidigen, lasse mich aber dennoch gerne beeinflussen und korrigieren. Das Leben ist ein großer Widerspruch. Es ist absurd. Unter der Vorgabe habe ich auch »Die Fremden« bearbeitet. Glaube geht aus von einem sicheren Wissen über Gott oder Allah. Zweifel sind dort nicht angesagt, obwohl noch niemand mit Gott gesprochen hat. Mir hat einmal ein jesuitischer Pater auf die Frage, ob er an Gott glaube, geantwortet: Er glaube zwar nicht daran, da er niemanden kenne, der Gott getroffen hat, aber aus moralischer Sicht sei es die beste Alternative.
Der »Islamische Staat« oder die Taliban haben Kulturstätten zerstört, Wissenschaftler und Intellektuelle getötet? Am Ende bleibt, im übertragenden Sinne, nichts als Wüste – und: Gott, der den Weg weist.
Religionen arbeiten mit Angst und Bestrafungen. Die verschiedenen Kirchen haben Katastrophen immer mit Gottes Strafen gerechtfertigt, um sich die Menschen gefügig zu machen. Ich habe 1953 eine große Flut miterlebt, bei der Tausende Menschen ertrunken sind. In meiner Gegend war die Kirche sehr bestimmend und hat gesagt: »Das ist die Strafe Gottes.« Spätestens da habe ich mich vom Glauben abgewandt. Die größte Strafe Gottes für mich ist, dass er nicht existiert.
Im Programmpunkt »Urban Prayers Ruhr« setzen Sie sich bewusst mit dem Thema auseinander. Warum ist Ihnen das so wichtig?
Es geht um einen Dialog mit sich selbst, darum, dass man gleichzeitig glauben und nicht glauben kann. Und dass man das zulässt. Bei dem Stück gehen wir mit fünf Schauspielern und dem Chorwerk Ruhr an sechs Sonntagen in sechs verschiedene Gotteshäuser: in eine christliche Kirche, in eine Moschee, in eine Synagoge, in einen Hindutempel, in ein evangelikales Gemeindezentrum und in eine serbisch-orthodoxe Kirche. Jede Gemeinde ergänzt unsere Aufführung mit einem eigenen kulturellen Beitrag. Am Ende stehen die Fragen: Glauben sie an die Freiheit der anderen? Was denken die Gläubigen über ihre nichtgläubigen Nachbarn und umgekehrt? Wir wollen Leute miteinander konfrontieren, die vorher nie etwas miteinander zu tun hatten, die sich aus dem Weg gehen, um zu testen, wie weit die Freiheit eines jeden Einzelnen geht. Inwiefern er bereit ist, die Freiheit des anderen zu achten und ab wann er seine eigene Freiheit verteidigt.
Neben der Religion und der ak­tuellen Debatte um Flüchtlinge und »Fremde« gibt es auch andere Schwerpunkte bei der Ruhrtriennale. Mit Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen stehen zwei einflussreiche Komponisten des 20. Jahrhundert auf dem Programm. Welche Gemeinsamkeiten sehen Sie in deren Werken?
Im 20. Jahrhundert hat sich die Rezeption von Musik sehr stark verändert. Ein großer Faktor ist dabei der Raum. Bei Stockhausens »Carré« aus dem Jahr 1959, das in diesem Jahr auf dem Programm steht, sitzt das Publikum in der Mitte und die vier Orchester und Chöre sind im Carré um das Publikum herum postiert. Die Musik erklingt von vier Seiten und wird je nach Sitzpositionen anders wahrgenommen. Auch die elektro­nische Musik war eine wichtige Weiterentwicklung. Bei dem Stück »Répons« von Boulez werden akus­tische Instrumente mit digital manipulierten Live-Klängen kombiniert. Letztlich geht es bei diesen Programmpunkten darum, die Menschen für diese Musik zu begeistern, was immer noch schwierig ist, aber das Ruhrtriennale-Publikum ist sehr neugierig auf diese Musik, und es ist sehr begeisterungsfähig. Im Kino oder im Theater sind die Leute eher bereit, sich damit auseinanderzu­setzen, da es neben der akustischen immer noch eine visuelle Komponente gibt. Kubrick hat Ligeti für viele Menschen erschlossen, indem er seine Stücke in »2001: A Space Odyssey« benutzt hat. Walt Disney hat Stravinsky eingebaut, und Wagners Walkürenritt in Coppolas »Apocalypse Now« ist Teil der populären Kultur geworden. Oft müssen Menschen über Umwege auf neue Dinge aufmerksam gemacht werden – im Leben wie in der Kunst.
Glauben Sie, dass die Masse der Leute tatsächlich bereit ist, sich mit dieser Art von Kunst auch außerhalb von Hollywood oder anderen populären Zusammenhängen aus­einanderzusetzen?
Man kann Menschen dazu motivieren, indem man sie neugierig macht, ohne sie zu zwingen. Es bleibt natürlich ihre eigene, freie Entscheidung. Ich persönlich komme aus einfachen Verhältnissen und habe glücklicherweise gute Lehrer gehabt. Ich bin froh, wenn ich jeden Tag Dinge entdecke, die ich als neu empfinde. Auch hier im Programm der Ruhrtriennale lasse ich mich gerne über­raschen von Kunst, die ich vorher nicht gesehen oder von der ich noch nicht gehört habe.
Das Schauspielhaus Bochum, an dem Sie in zwei Jahren als Intendant arbeiten werden, galt ja über Jahrzehnte als Bindeglied zwischen Hochkultur und Arbeiterklasse, war ein Hort der Emanzipation der Offenheit, für die Leute wie Claus Peymann oder Peter Zadek standen. Zadek ging damals ja auch bewusst auf die Leute zu. Er ging auf die Straße, in die Fabriken und lud Opel-Arbeiter zu Proben ein. Merken Sie im Ruhrgebiet noch etwas von diesem Aufbruch?
Als ich auf die Schauspielschule ging, war es eine sehr wichtige Erfahrung. Ich bin damals weit ge­fahren, um die Inszenierungen in Bochum zu sehen. Bei der diesjäh­rigen Ruhrtriennale veranstalten wir so genannte Guerillakonzerte. Wir gehen in verschiedene Stadtteile ungeKuben dort spontan Konzerte. Auch hier geht es darum, neugierig zu machen, um Dialog, darum, sich zu öffnen. Wir wollen Verständnis dafür wecken, was hinter den Mauern des Theaters, der Konzerthäuser oder auch der Industriedenkmäler passiert. Die große Mehrheit hat diese Gebäude noch nie von innen gesehen und weiß auch nicht, was dort geschieht.
Ihr Vorgänger Heiner Goebbels kommt aus der linken Sponti-Szene und hat sich später bewusst davon abgewandt, von der Bühne aus belehrend auf das Publikum einzuwirken.
Kunst war oft politisch, wenn auch nicht immer explizit: Man muss nicht unbedingt an das epische Theater von Brecht denken. »Panzerkreuzer Potemkin« oder die 9. Sinfonie von Beethoven sind inspiriert von Politik, von den Ideen, die damals die Befreiung versprachen. Die Avantgardisten des frühen 20. Jahrhunderts sahen sich auch politisch – wenn auch nicht immer inhaltlich, sondern eher in der Art und Weise, wie sie Kunst mit dem Alltag verbunden haben, wie sie alte Formen aufgebrochen haben. Bauhaus, »Der Blaue Reiter« oder die Expressionisten hatten alle auch einen ­gesellschaftlichen Anspruch. Den haben wir auch. Die Ruhrtriennale ist ein Festival, das sich bemüht, in der gesamten Region stattzufinden und über sechs Wochen großartige Kunst in das Ruhrgebiet zu bringen. Wir versuchen, trotz aller künstlerischen Ambitionen doch nahbar zu sein. Wir versuchen, nicht elitär zu kommunizieren, sondern möglichst konkret den direkten Kontakt mit den Menschen hier zu pflegen. Wir bieten Probenbesuche und kostenlose Hallenbesichtigungen an, wir haben das künstlerische Spektrum stark erweitert und auch das Fami­lienstück wieder eingeführt, wir machen kostenlose Guerillakonzerte mit Weltklasseorchestern – alles Bausteine, um eben nicht zu abgehoben zu erscheinen, sondern Hemmschwellen abzubauen und Neugierde zu wecken. Nicht alles gelingt, aber ich denke, dass unsere Ruhrtriennale bei aller hohen Kunst ein Festival mit einem menschlichen Gesicht ist, das keine Deutungshoheit für sich in Anspruch nimmt, sondern offen ist für das Publikum und dessen Sicht der Dinge.

Die Ruhrtriennale läuft noch bis zum 24.September an zahlreichen Spielstätten im gesamten Ruhrgebiet. Infos unter: