Mimoun Azizi im Gespräch über die deutsche Politik gegenüber den Islamverbänden

»Die liberalen Kräfte schaffen es nicht, zu kooperieren«

Mimoun Azizi ist Neurologe, Psychiater und Soziologe. Zudem veröffentlichte er mehrere Bücher über den Islam. Seit Jahren beschäftigt er sich mit der psychiatrischen Versorgung von muslimischen Patienten. Als Kolumnist beim Meinungsblog »Tichys Einblick« kritisiert er die Rolle der etablierten Islamverbände in Deutschland.

Die großen Islamvereine in Deutschland wie der Zentralrat der Muslime (ZdM) und die Ditib (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion) werden heftig kritisiert. Ihnen wird zu große Nähe zum türkischen Staat und zu islamistischen Netzwerken vorgeworfen. Dennoch waren sie bislang die bevorzugten Dialogpartner für Bund und Länder. Hat Deutschland im Umgang mit dem organisierten Islam einen grundsätzlichen Fehler gemacht?
Ja. Der deutsche Staat hat in der Ausländerpolitik lange undifferenziert gehandelt. Als man nach den sechziger und siebziger Jahren gemerkt hat, dass die muslimischen Einwanderer hier bleiben und Familien gründen, hat man für die Integration nach muslimischen Ansprechpartnern gesucht. Weil die Mehrheit der Muslime in Deutschland türkischer Abstammung ist, stieß man auf die Ditib. Nur hat man unterschätzt, dass sich die Ditib auch verändert, wenn sich die politischen Verhältnisse in der Türkei ändern. Man hätte auch den ZdM stärker unter die Lupe nehmen und erkennen müssen, dass die Grauen Wölfe, also türkische Nationalisten, und die Muslimbruderschaft dort ­organisiert sind. Die deutsche Politik muss sich fragen, ob es richtig ist, dass diese Verbände, die weniger als 20 Prozent der in Deutschland lebenden Muslime repräsentieren, für die gesamte Community sprechen dürfen. Warum ist es in Ordnung, dass ich als deutscher Muslim von einer Organi­sation repräsentiert werde, die von der Türkei aus gesteuert wird?
Mehrere Bundesländer, unter anderem Nordrhein-Westfalen, haben jüngst angekündigt, ihre Kooperation mit Ditib zu beenden. Ist das ein erster Schritt in die richtige Richtung?
Ich bin da skeptisch. Zum einen haben die meisten deutschen Politiker bedauerlicherweise wenig Ahnung von diesen Strukturen. Zum anderen haben wir Politiker, die es für rassistisch und antiislamisch halten, wenn man diese Verbände kritisiert. Da stehen die Grünen in vorderster Reihe. Ich bin auch skeptisch, weil sogar die Kirchenvertreter Angst haben, zu sagen: Nein, mit diesen Organisationen arbeiten wir nicht zusammen, es sei denn sie verändern und reformieren sich. Kommunal- und Bundespolitiker haben keine einheitliche Linie. Alle wollen, dass die Integration gelingt. Aber wie soll Integration gelingen, wenn die Bundesregierung mit Menschen zusammenarbeitet, deren Agenda diesem Ziel diametral entgegensteht? Es ist lächerlich und absurd, dass man in der Islamkonferenz mit dem ZdM und der Ditib verhandelt.
Die Verbände schaffen mit ihrer Intransparenz mehr Probleme als Lösungen. Dadurch erscheint insgesamt der Islam in Deutschland als gefährlich und es entsteht der Eindruck, dass alle Muslime etwas verheimlichen. Die Verbände schaden dem Islam an sich, und das ist das Tragische. Ich bin selbst Muslim und ich bezeichne andere nicht als Ungläubige. Ich teile nicht die Meinung, dass Homosexuelle unislamisch sind. Ich habe den anderen zu würdigen, alles andere muss Gott alleine entscheiden. Wenn ich mir aber zu entscheiden anmaße, wer ein Ungläubiger ist und wer nicht, dann kann ich doch nicht als Ansprechpartner der Bundesregierung fungieren. Ich halte es aber nicht für unmöglich, dass die deutsche Politik erkennt, dass sie den falschen Weg eingeschlagen hat.
Was wäre die Lösung?
Ich fordere, dass die Bundesregierung zur Besinnung kommt und erkennt, dass eine Zusammenarbeit mit Millî Görüş, dem ZdM und der Ditib keine Zukunft hat. Die Bundesregierung muss das Konzept der Islamkonferenz überdenken und die Kräfte ins Boot holen, die eine Verbindung zwischen der alteingesessenen deutschen Kultur und den Neueingewanderten herstellen können. Wir brauchen Brückenbauer, die beide Kulturen verstehen. Das muss im Rahmen des Grundgesetzes passieren.
Alle hier lebenden Muslime bedürfen durchaus einer Vertretung. Sie müssen auch in entsprechenden Gremien und Ethikkommissionen vertreten sein, um bei Themen wie Sterbehilfe oder Schwangerschaftsabbruch mitreden zu können. Aber dies sollte innerhalb der existierenden Strukturen geschehen. Es braucht keinen muslimischen Wohlfahrtsverband. Wir können doch unser Wissen einer transkulturellen Medizin zur Verfügung stellen. Das ist die Integration, die wir anstreben sollten. Wenn es beispielsweise muslimische Pflegeheime gibt, dann sollten sie auch allen zugänglich sein, einschließlich Homosexuellen. Wenn man aber, wie die genannten Verbände, von vorn­herein gegen Schwule und ungewollt schwangere Frauen ist, kann das nicht funktionieren.
Die Ditib ist sehr aktiv an der Ausgestaltung des islamischen Religionsunterrichts beteiligt. Die Inhalte zeugen bislang wenig von einer kritischen Auseinandersetzung mit den Glaubensinhalten. Braucht es einen besseren Religionsunterricht ohne Einfluss der Verbände oder dessen Ersetzung durch einen Ethikunterricht für alle Schüler?
Ich würde für einen Ethikunterricht plädieren, der alle Religionen bespricht. Auch damit Schulen keine Orte religiöser Auseinandersetzung werden. Denn zunehmend haben wir leider die Entwicklung, dass an Schulen die Konflikte zwischen den verschiedenen muslimischen Gruppen ausbrechen, weil die Schüler in Moscheen schlecht unterrichtet und zu Hause anders sozialisiert werden. Es ist ein Missverständnis, dass, nur weil die Kinder in Deutschland zur Welt kommen, sie automatisch eine westeuropäische Denkweise haben. Da muss man präventiv denken. Die Moscheen können selbstverständlich weiter Islamunterricht anbieten. Doch dieser muss transparent und in deutscher Sprache durchgeführt werden.
Gemeinsam mit Ahmad Mansour, Bassam Tibi und Abdel-Hakim Ourghi gehören Sie in Deutschland zu den bekanntesten liberalen muslimischen Intellektuellen, die für einen aufgeklärten Islam eintreten. Wie sieht dieser Islam aus?
Bassam Tibi ist mit seiner Idee vom Euroislam sicher ein Vorreiter gewesen. Er hat nichts anderes gesagt, als dass es in den islamischen Staaten Strukturen gibt, die nicht nach Europa passen, und dass die hier lebenden Muslime sich nach den Werten des Grundgesetzes ausrichten müssen. Ich stimme nicht mit allem überein, was Mansour oder Tibi sagen. Aber ich finde es gut, dass sie unangenehme Themen ansprechen.
Zum Beispiel müssen wir im Islam das Verhältnis zu Homosexuellen überdenken oder zu Minderheiten wie der Ahmadiyya-Gemeinde. Gewisse Aspekte unseres Glaubens müssen wir kritisch betrachten, ohne die gesamte Religion in Frage zu stellen oder den Koran umschreiben zu wollen. Wir fragen: Welche Aspekte sind zeitgemäß, welche nicht? Wir leben nicht mehr im Jahre 632, sondern im Jahr 2016. Wir müssen unsere Denkweise der heutigen Zeit anpassen, wie es andere Religionen auch gemacht haben.
Der Organisationsgrad von aufgeklärten Organisationen wie dem Liberal-Islamischen Bund ist nach wie vor gering. Gibt es in Deutschland zu wenige Muslime, die Ihren Islam wollen, oder zeigt die schweigende Mehrheit kein Interesse daran, sich zusammenzutun?
Wir haben das Problem, dass die liberalen Kräfte es nicht schaffen, zu kooperieren. Der eine ist im Süden, der andere ist im Norden, der eine gibt keine Interviews, der andere sitzt in Talkshows. Das ist ineffizient. Warum? Es sind zum einen wenige, die ihre Stimme erheben. Zum anderen sind auch die, die sich äußern, einander nicht grün. Wir müssten auch ganz konkrete Vorschläge machen, aber wir sind im Diskurs verfangen. Kant würde sagen, das ist nichts als Faselei. Zum Beispiel gibt es keine Laienorganisation, die muslimische Frauen begleitet, die abtreiben wollen. Das sind Probleme, die die Bundesregierung ansprechen muss.
Stattdessen diskutieren wir Fragen wie: »Gehört der Islam zu Deutschland?« Egal, ob man das mit ja oder nein beantwortet – es leben hier trotzdem über fünf Millionen Muslime. Wir debattieren Themen, die unwichtig oder eher philosophischer Natur sind. Aber wir negieren die Realität. Wir übersehen das Problem in Marxloh und in Neukölln. Wir übersehen die zunehmende Radikalisierung und den Antisemitismus. Da müssen wir aktiv ­werden.
Derzeit ist unter deutschen Politikern ein Verbot der Burka im Gespräch. Was halten Sie davon?
Ich bin für dieses Verbot, und zwar aus drei Gründen. Erstens sieht die Religion die Burka nicht vor. In den meisten islamischen Ländern gibt es sie nicht. Wir haben das Problem, dass sich eine konservative Minderheit heranbildet, die sich hier reaktionärer gibt als in den islamischen Staaten selbst. Zweitens kann sich keine Frau integrieren, wenn andere Menschen ihr nicht ins Gesicht sehen können, wenn man nicht mit ihr reden kann und wenn sie bei anderen Angst und Unbehagen erzeugt. Natürlich kann das nur scheitern. Wir haben in der deutschen Gesellschaft andere Regeln. Drittens würde ich das Verbot alleine aus Sicherheitsgründen wollen. Unter der Burka kann sich auch ein Mann verbergen. Mit dieser Verkleidung ließen sich leicht Anschläge verüben. Aber ich würde mir wünschen, dass die Bundesregierung nicht immer erst wartet, bis irgendwas passiert, um dann reflexartig in derartigen Aktionismus zu verfallen.