»Black Lives Matter« kritisiert den Rassismus in den USA – und den »Genozid« Israels

Voll sensibel

Die US-amerikanische Gruppe »Black Lives Matter« kritisiert Rassismus und Sexismus in den USA. Von Genozid sprechen sie auch – und meinen damit die israelische Politik.

Wenn der Vorwurf der »kulturellen Aneignung« erhoben wird, geht es vor allem um Sensibilität. Die Nachkommen der weißen Kolonialherren sollen sich bewusst werden, dass sie in einer bösen Tradition stehen, wenn sie sich in anderen Kulturkreisen ungefragt bedienen – durch Raub an Ressourcen, inklusive lebendigen menschlichen. Die Forderung nach Sensibilität kann und sollte man durchaus ernst nehmen, es ist nicht die schlechteste Eigenschaft. So wie allerdings in Europa und den USA die Debatte geführt wird, ist es eine Sensibilität, die vor allem von »Weißen« gegenüber »Schwarzen« gefordert ist. Die per se als unterdrückt angesehenen Schwarzen sollen das Mittel der Provokation ruhig benutzen, so zumindest die Position der Gruppe »Black Lives Matter« (BLM) in den Vereinigten Staaten. Dabei geht es insbesondere um die Verwendung des Begriffs des Genozids, er findet sich etwas unvermittelt auf der Website von BLM – man sei »gegen Genozid«. Warum auch nicht? Genozid, Völkermord, ist zunächst einmal ein Begriff des internationalen Rechts, das darunter neben der physischen Vernichtung einer bestimmten ethnisch oder religiös de­finierten Bevölkerungsgruppe auch Handlungen versteht, die dazu dienen, Völkermord vorzubereiten. Vorbild war bei dieser Definition die NS-Vernichtungspolitik gegen die europäischen Juden, der Bücherverbrennungen und Synagogenbrände vorausgingen. Der Begriff ist also durchaus weit gefasst und auch universal zu verstehen. Der Intention nach geht es darum, dass, durchaus im Sinne Theodor W. Adornos, »dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe.« Bei BLM geht es aber dabei um etwas ganz anderes, nämlich um eine politische Provokation durch Übertreibung und den dadurch erzielten Schockeffekt. Als Reaktion auf die Erschießung von Michael Brown im Jahr 2014 orga­nisierte BLM in Anlehnung an die sogenannten »Freedom Rides« des Students Nonviolent Coordination Committees (SNCC) und anderer Bürgerechtsgruppen der frühen sechziger Jahre einen Freedom Ride an den Tatort – Ferguson, Missouri. Auf einem Poster der Demonstration hieß es: »From Ferguson to Palestine - occupation is a crime«. BLM imaginiert sich als Teil einer globalen Bewegung gegen »white supremacy«, wo­runter auch der israelisch-palästinensische Konflikt subsumiert wird. Wie inzwischen aus den Aussagen zentraler Vertreter von BLM klar wird, hat die Gruppe bei der Verwendung des Genozidbegriffs einen ganz bestimmten »Genozid« im Auge – den des Staates Israel an den Palästinensern. Dem israelischen Staat kann man hinsichtlich des Umgangs mit israelischen Arabern und in den besetzten Gebieten lebenden Palästinensern viel Schlechtes nachsagen, aber nicht die Planung einer systematischen Auslöschung der Palästinenser oder ihrer Kultur. Entsprechend ist die Rede vom Genozid schlichter Humbug. Es geht aber auch eher um die Skandalisierung durch die Verwendung eines Begriffs, der seine provokative Wirkung nicht verfehlen kann. Für säkulare Juden – traditionell eine der liberalsten und progressivsten Gruppen der US-amerikanischen Gesellschaft – haben Israel und der Holocaust als Bezugspunkt immense Bedeutung. Durch die mediale Aufbereitung dieser beiden Topoi sind sie aber zugleich auch zum Teil der gesamtamerikanischen Erzählung geworden – »wir« Amerikaner haben der Welt etwas Gutes getan, indem wir geholfen haben, den Holocaust zu beenden, und daher stehen »wir« auch heute zu Israel. So gesehen zielt die Gleichung Israel gleich Völkermörder auf die Delegitimierung einer »amerikanischen« Selbstvergewisserung, trifft aber amerikanische Juden ungemein direkter. Das wird als mehr oder weniger bewusst einkalkulierter und nicht weiter bedauerter Kollateralschaden mindestens in Kauf genommen. Besonders sensibel ist das gegenüber einer Bevölkerungsgruppe, die jahrhundertelanger Verfolgung ausgesetzt war, die schließlich in einen tatsächlichen Genozid mündete, eigentlich nicht. Aber offenbar fällt die Verantwortung, auch gegenüber Juden sensibel zu sein, nicht unter den »intersektionalen« Anspruch der Gruppierung – dem linken Zeitgeist gemäß wird auf der Website von BLM mit besonderem Nachdruck der ­Unterdrückung schwarzer Frauen und Transgender ­gedacht. Auch die soziale Frage ist präsent, wenn auch nicht unbedingt so zentral. Die demonstrative Missachtung der jüdischen Sichtweise – sei sie bewusst oder nur halbbewusst – markiert einen bedauerlichen neuen Tiefpunkt in den politischen Beziehungen der schwarzen und jüdischen Emanzipationsbewegungen in den USA. Die waren nicht immer schlecht, sondern durchaus auch von unterschiedlichen Phasen und Formen der Kooperation geprägt. BLM entstand 2013 als Reaktion auf den Freispruch George Zimmermans, der den schwarzen Jugendlichen Trayvon Martin erschossen hatte. Seitdem hat sich BLM zu einer der führenden Gruppen einer wieder erstarkten black consciousness-Bewegung entwickelt. In den USA war die schwarze Bürgerrechtsbewegung immer heterogen. Sie umfasst einen moderateren Flügel, der sich auf demokratische Werte und die US-Verfassung bezieht; ihr prominentester Repräsentant war Martin Luther King Jr. Auf dieser Seite war in Rückgriff auch auf die bereits erwähnte gesamtamerikanische Erzählung die Bezugnahme auf Israel und die Tradition des jüdisch-amerikanischen Liberalismus positiv. Martin Luther King erlebte den Sechstagekrieg und die Besatzung des Westjordanlandes allerdings nicht mehr. Nahezu gleichzeitig mit der Besatzung erstarkten Gruppierungen innerhalb der schwarzen Bürgerrechtsbewegung, welche die Politik und Gesellschaft der USA wegen ihres Rassismus für nicht reformierbar hielten und deshalb entweder Umsturz, Separatismus oder Exodus propagierten – die politischen Forderungen reichten historisch von »Back to Africa« über den ethno-religiösen Separatismus der Nation of Islam bis zur an den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt orientierten militanten Revolutions- und Selbstverteidigungsrhetorik der Black Panther Party. Auch der schwarze Separatismus hat eine Tradition, die sich in den zwanziger Jahren in durchaus positiver Bezugnahme auf das Judentum einmal als Black Zionism bezeichnete. Eine Reihe von Faktoren – darunter die Politik der internationalen Befreiungsbewegungen, mit denen man sich als »fellow black people« identifizierte, und nicht zuletzt der charismatische Einfluss des Renegaten der black muslim-Bewegung, Malcolm X – begünstigte eine weitreichende Verschiebung, die fortan nicht nur das Verhältnis zu Israel, sondern auch zu Juden generell und speziell den amerikanischen Juden betraf. Sie wurden, anders als die Schwarzen, als in die Gesellschaft integriert betrachtet. Somit galten sie als »weiß«, was auch erklärt, warum sie innerhalb des intersektionalen Ansatzes von BLM keine besondere Würdigung als Teil der Unterdrückten dieser Erde erfahren. BLM befindet sich irgendwo zwischen der liberalen Tradition Kings und der der Separatisten. Einerseits benutzt BLM eine Sprache, die sich nicht an »amerikanischen Werten«, sondern an einer diffusen universal gedachten Black ­Liberation orientiert. Historisch kommt BLM am ehesten dem Students Non­violent Coordination Committee nahe. Politisch war diese Gruppe radikaler als Martin Luther King Jr., aber sowohl verbal als praktisch weniger militant als die Black Panthers. Auch in der Geschichte des SNCC gab es schon einen einmal Tiefpunkt jüdisch-schwarzer Beziehungen. In einem umstrittenen Plenumsbeschluss entschied sich die Mehrheit der schwarzen Mitglieder des SNCC für den Ausschluss der weißen – und die waren fast ausnahmslos jüdisch. Insofern handelt es sich bei der heutigen »Aneignung« des Genozid-Begriffs um mehr als nur einen vereinzelten Akt mangelnder politischer Sensibilität – er reiht sich ein in eine bedauerliche Entwicklung.