Opfer des Brands in einer pakistanischen Textilfabrik 2012 klagen auf Schadenersatz

Brandheiße Ware

Nach einem Brand in einer Textilfabrik in Pakistan, bei dem vor vier Jahren 260 Menschen starben, wurde schnell der deutsche Kleidungs­discounter Kik als Schuldiger ausgemacht. Doch die Rechts- und Faktenlage ist komplizierter als zuerst gedacht. Das Landgericht Dortmund befasst sich jetzt mit einer Schadensersatzklage von vier Opfern und könnte damit einen Präzedenzfall schaffen.

Es sah ganz einfach aus. Als vor vier Jahren die Textilfabrik des pakistanischen Unternehmens Ali Enterprise in Karachi abbrannte, legten sich viele schnell darauf fest, dass mangelnder Brandschutz zum Ausmaß der Katastrophe geführt habe. Weil die Fenster der Fabrik vergittert waren, war vielen der Fluchtweg versperrt. Berichten zufolge waren Notausgänge und auch der Haupteingang zum Brandzeitpunkt verschlossen.
Aber der Fall ist komplizierter. Ein Gutachten der pakistanischen Polizei und des Geheimdienstes vom Februar 2015 stellt als Brandursache eine gezielte Brandstiftung fest. Die Notausgänge seien am Brandtag zwar verschlossen gewesen, allerdings von außen. Das Feuer sei zudem absichtlich an verschiedenen Stellen in dem Gebäude gelegt worden, so dass die vor den Flammen fliehenden Menschen die Notausgänge nicht erreichen konnten. Der mutmaßliche Brandstifter hat zugegeben, im Auftrag der Partei MQM (Vereinigte Volksbewegung) gehandelt zu haben. Diese habe den Brand legen lassen, weil der Fabrikbetreiber Ali Enterprise sich Schutzgeldzahlungen an die MQM verweigert habe. Der Stadtteil Baldia Town war im Jahr 2012 zwischen den Parteien MQM und ANP umkämpft. Laut Wikileaks verfügt die MQM über bis zu 25 000 Bewaffnete, die für sie handeln. Die Ermittlungen pakistanischer Behörden können nicht als zuverlässig gelten, werden in diesem Fall jedoch von Anwohnern bestätigt. »Schutzgelderpressungen waren in Baldia Town zu diesem Zeitpunkt so normal wie anderswo die Einkommenssteuer«, sagt der Frederic Schmidt*, der sich 2012 vor Ort ein Bild von der Lage machte. In Baldia Town zweifelte kaum jemand daran, dass der Vorfall auf einen Brandanschlag zurückzuführen ist, so Schmidt.
Ein Überlebender und drei Hinterbliebene von Opfern verklagen nun den Discounter Kik aus Bönen im Ruhrgebiet auf je 30 000 Euro Schadensersatz. Die Richter am Landgericht Dortmund stehen vor einer nicht gerade alltäglichen Aufgabe, weil sie nach pakistanischem Recht entscheiden müssen. Der Fall ist zudem ungewöhnlich, weil Kik nur ein Auftraggeber des pakistanischen Textilunternehmens war, das Eigentümer und Betreiber der Fabrik war. Der Klägeranwalt Remo Klinger hält Kik für haftbar, weil das deutsche Unternehmen bei seinem Lieferanten in Karachi nicht genug auf die Einhaltung von Sicherheitsstandards und Brandschutzvorgaben hingewirkt habe.
Das Gericht hat den Klägern vergangene Woche Prozesskostenhilfe gewährt und ihnen somit eine wichtige Hürde vor dem eigentlichen Verhandlungsbeginn genommen, denn Gerichtsverfahren sind teuer. Grundsätzlich gewährt der Staat ärmeren Klägern die Hilfe nur, wenn die Klage »hinreichend Aussicht auf Erfolg hat« und »nicht mutwillig« ist. In diesem Fall machte das Gericht von einer Ausnahmeregelung Gebrauch: Bei komplizierten Sachverhalten kann es die Unterstützung auch dann gewähren, wenn der Erfolg nicht prognostiziert werden kann. Die Entscheidung sagt also nichts darüber aus, ob die Angehörigen der Opfer in dem Fall Chancen haben.
Saeeda Khatoon ist eine von ihnen. Ihr Sohn war knapp 18 Jahre alt, als er bei dem Brand im Jahr 2012 starb. »Seit vier Jahren arbeitete er in der Textilfabrik«, sagt die Mutter, die durch das Unglück auch den Hauptverdiener ihrer Familie verloren hat. Ihr Anwalt Klinger hält die Brandursache in dem Fall für irrelevant. Der deutsche Textildiscounter hätte gegenüber dem pakistanischen Zulieferer mehr auf die Einhaltung von Arbeitsschutzmaßnahmen pochen müssen, sagte er dem Amnesty Journal: »Ich bin selbst dort gewesen und habe gesehen, dass es unmöglich war, durch die Keller zu entkommen. Man muss kein Sachverständiger sein, um das festzustellen.«
Kik beruft sich indessen auf das Brandschutzzertifikat SA8000 des italienischen Unternehmens RINA, mit dem das Gebäude wenige Monate zuvor versehen worden war. Es gibt eine ganze Reihe solcher Zertifizierungsunternehmen, die Produktionsstätten in Entwicklungsländern wie ein TÜV prüfen ­– mit dem entscheidenden Unterschied, dass sie keine staatlichen Regelungen, sondern freiwillige Selbstverpflichtungen überprüfen. RINA ist ein privatwirtschaftliches Unternehmen, das sein Geld mit den Stempeln für das gute Gewissen verdient. Der erste Satz, mit dem RINA auf seiner Website für das Zertifikat SA8000 wirbt, lautet in etwa: Mit diesem Zertifikat können international tätige Unternehmen ihren Ruf in Bezug auf die Einhaltung ethischer Standards verbessern. Auf Fotos der Fabrik in Karachi, die der Zertifizierung beiliegen, sieht man mustergültig ausgewiesene Fluchtwege, Notausgänge und Feuerlöscher. Auch vor Ort in Karachi kann man die Notausgänge sehen: Zum Beispiel eine nach außen führende Tür in neun Metern Höhe – ohne Leiter.
»Wenn man bei einem Bäcker Kunde ist und dort ein Brötchen kauft, ist man auch nicht mitschuldig, wenn einen Tag später die Bäckerei abbrennt«, fasst eine Sprecherin von Kik den Standpunkt des Unternehmens zusammen. Aber wenn man jeden Tag zwei Drittel aller Brötchen kauft und dazu noch den Preis diktiert? 70 Prozent der Produktionsmenge von Ali Enterprise in Karachi sind für den deutschen Textildiscounter hergestellt worden. »Kik war dort der König, der Boss. Dafür haben wir hinreichende Beweise«, sagt Klinger. In der Sache geht es um die generelle Frage, ob ein Unternehmen auch für die Arbeitnehmer seiner Produzenten haftet. Juristisch ist das problematisch. Grundsätzlich ist es für den Bäckereifachverkäufer umständlicher, vom Auftraggeber seines Chefs Schadensersatz zu verlangen als von dem Bäckermeister, bei dem er unter Vertrag steht. Und auch was die Unternehmerseite angeht, ist es prinzipiell vernünftig, dass ein Auftraggeber nicht für den Arbeitsschutz seines Produzenten haftet, wenn es sich um zwei rechtlich selbstständige Unternehmen handelt. Um beim Beispiel der Bäckerei zu bleiben: Der Bäcker hätte in den meisten Fällen wenig Lust darauf, dass ihm ein (Groß-)Kunde vorschreibt, wie er seinen Betrieb zu organisieren hat. Ob die Klage Erfolg haben wird, ist deshalb nicht nur vor dem Hintergrund des mutmaßlichen Brandanschlags fraglich. Zumal die Entscheidung über die Textilbranche hinaus Präzedenzwirkung entfalten könnte.
Doch in dem Fall geht es nicht um süße Teilchen. Unternehmen wie Kik kommt es bei der Produktion in Entwicklungsländern nur auf eines an: den Preis. In der Regel betragen die Produktionskosten nicht mehr als ein Prozent des Verkaufspreises. Das setzt Hersteller wie Ali Enterprise unter enormen Druck, der in Form von prekären Arbeitsbedingungen an die Beschäftigten weitergereicht wird. 70 Euro für zehn bis 14 Stunden Arbeit am Tag hat Khatoons Sohn bei Ali Enterprise verdient – monatlich. Das ist selbst für pakistanische Verhältnisse wenig. Der Durchschnittslohn in dem Land liegt bei knapp 100 Euro pro Monat. In 95 Prozent der Betriebe in Pakistan gibt es keine gewerkschaftliche Vertretung, sagt der Vizegeneralsekretär der pakistanischen Gewerkschaft NTUF, Nasir Mansoor. Nur etwa fünf Prozent der Beschäftigten hätten überhaupt einen schriftlichen Arbeitsvertrag. »Auf dem Papier hat Pakistan im Verhältnis zu vergleichbaren Ländern wie Indien oder Sri Lanka ein gutes Arbeitsrecht. Aber nicht in der Praxis«, sagt der Gewerkschafter. Er fordert verbindliche staatliche Regelungen für ausländische Unternehmen, die in Ländern wie Pakistan produzieren.
Ohne derartige Gesetze, deren Einhaltung durch staatliche Kontrollen überprüft wird, wird es nicht funktionieren. Textilunternehmen, die sich die Herstellung eines T-Shirts nicht mehr als einen Euro kosten lassen, akzeptieren gern blumig klingende, aber unverbindliche Versprechen für eine menschenwürdige und nachhaltige Produktion. Auch Kik ist Mitglied in vielen gutgemeinten Initiativen, wie beispielsweise dem »Bündnis für nachhaltige Textilien«, das unter der Schirmherrschaft des Bundesentwicklungsministerium steht. Für eine »Unterstützung von NGOs, den Dialog mit den Partnerländern, die Kooperation mit der Wirtschaft und die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft« setze man sich ein. Solche Formulierungen tun niemandem weh. Vor allem nicht dem Gewinn.

* Name von der Redaktion geändert.