Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff wurde des Amtes enthoben

Verdammtes Land

»Was ist das nur für ein Land?«, schallte es zum Ende der Olympischen Sommerspiele plötzlich von einer Konzertbühne auf dem Olympischen Boulevard Rio de Janeiros. Den Refrain des bekannten Protestsongs »Que país é esse?« von Legião Urbana, den die auf der Bühne stehenden Musiker von Os Paralamas do Sucesso und Nação Zumbi als Zugabe coverten, kennt in Brasilien jeder. Das Publikum ließ sich nicht lange bitten und beantwortete die Frage textsicher: »Es ist das verdammte Brasilien!« Um die Stimmung zu retten, brannten die Veranstalter ein Feuerwerk ab, doch das entfachte nur weitere wütende Sprechchöre: »Weg mit Temer«. Selbst angetrunkene Touristen und Touristinnen grölten mit, auch wenn einige von ihnen sicher nie vom unbeliebten Interimspräsidenten Michel Temer gehört haben.
An jenem Abend schien es, als ob das im April initiierte, von vielen als »kalter Putsch« titulierte Amtsenthebungsverfahren gegen Präsidentin Dilma Rousseff doch noch abwendbar sei. Diese Hoffnung zerschlug sich am Mittwoch vergangener Woche jedoch endgültig. 61 der 81 versammelten Senatsmitglieder besiegelten an diesem Tag in der alles entscheidenden Abstimmung das vorläufige politische Ende Rousseffs und damit auch das Ende der 13 Jahre währenden Regierungszeit der Arbeiterpartei (PT). In ganz Brasilien kam es zu spontanen Demonstrationen und Kritiker versuchten eine politische Lagebestimmung. »Heute werden die Uhren 52 Jahre zurückgedreht«, schrieb das Medienkollektiv Mídia Ninja in Anspielung auf den Militärputsch von 1964. Rousseff twitterte: »Zukünftige Generationen werden wissen, dass, als zum ersten Mal eine Frau Präsidentin wurde, der Machismo und die Misogynie ihre hässlichen Fratzen zeigten.« Dagegen sprach der nun bis 2019 regierende Temer in seiner Antrittsrede von »einer demokratischen und transparenten Entscheidung des Nationalkongresses« und einem Moment, in dem das »Vertrauen in Brasilien wiederhergestellt« werde.
Doch ob Temers Regierung, die in Umfragen derzeit nur jeder fünfte Brasilianer als positiv bewertet, im Land und in der Welt tatsächlich breite Anerkennung finden wird, bleibt fraglich. Die Ablehnung war nicht nur unter lateinamerikanischen Regierungen – außer denen Mexikos, Kolumbiens und Argentiniens – groß. Auch beispielsweise die französischen Sozialisten warfen der brasilianischen Rechten vor, die Demokratie zu destabilisieren. Die deutsche SPD sprach von einem »Missbrauch« des Amtsenthebungsverfahrens.
Andererseits könnte die internationale Empörung auch schnell wieder abflauen, schließlich verspricht der Regierungswechsel nicht zuletzt neue Investitionsmöglichkeiten. Die Wirtschaftspolitik Brasiliens wird auf Austerität und Ausverkauf setzen. Denn nachdem sich Temer noch als Interims­präsident die Zustimmung vieler Gouverneure durch Finanzhilfen in Höhe von 13 Milliarden Euro erkauft hat, kann er nun mit noch mehr Vehemenz behaupten, die Staatsschulden seien zu hoch. Die Einstellungsstopps an zahlreichen Universitäten und Schulen und das Einfrieren des staatlichen Wohnungsbauprogramms sind Vorboten eines Sparprogramms. In den nächsten Wochen will Temers Regierung eine umfassende Renten- und Arbeitsreform auf den Weg bringen.
Zur Aufbesserung der öffentlichen Bilanzen angesichts des derzeit niedrigen Ölpreises gibt es bereits erste Vorschläge. Internationalen Forstwirtschaftsunternehmen soll der Erwerb von Land in Brasilien erleichtert werden, um Eukalyptus anzubauen, was aufgrund der Austrocknung der Böden und der erhöhten Waldbrandgefahr jedoch ökologisch bedenklich ist. Bilaterale Handelsverträge sollen ein weiteres Wachstum der Agrarindustrie ermöglichen. Zudem gibt es viele Projekte großer brasilianischer Bau- und Energieunternehmen, die wegen des Korruptionsskandals »Lava Jato«, der beim halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras seinen Ausgang nahm, derzeit ausgesetzt sind und sich langsam in eine interessante Konkursmasse für transnationale Unternehmen verwandeln.
Gelingt es der neuen Regierung tatsächlich, »die brasilianische Wirtschaft zurück in die Spur zu bringen«, wie Temer in seiner ersten Fernsehbotschaft versprach, dann hat sie gute Chancen bis zu den Wahlen Ende 2018 durchzuhalten. Wird dem neuen und alten Mittelstand, der bei vorherigen Wahlen eher den PT unterstützte, etwas von seinen Abstiegsängsten genommen, dann könnte es schnell zur Nebensache werden, dass gegen mehrere Kabinettsmitglieder – und mehr als die Hälfte der brasilianischen Senatoren – strafrechtliche Ermittlungen wegen Korruption oder Geldwäsche laufen.
Und die Arbeiterpartei? Sie ist wegen der Kommunalwahlen im Oktober bemüht, sich schnell neu zu sortieren. Ursprünglich war der Plan, die Wahlen für ein Referendum zu nutzen, das vorgezogene Präsidentschaftswahlen ermöglichen sollte. Der PT-Vorsitzende Rui Falcão sprach sich kurz nach der Amtsenthebung Rousseffs nun dagegen aus; Rousseff ist dafür. Zwar hat sie ihr Amt verloren, im Senat jedoch auch eine zweite Abstimmung gewonnen, die es ihr ermöglicht, weiterhin für politische Ämter zu kandidieren. »Ich bin mir sicher, dass ich sagen kann: bis ganz bald«, schwört sie ihre Unterstützer auf Widerstand ein. Noch in der vergangenen Woche versuchte ihr Vorgänger und PT-Mitbegründer Luiz Inácio Lula da Silva auf einem Krisentreffen zwischen beiden Lagern zu vermitteln. Ein gefundenes Fressen für die konservative Presse, die süffisant über die »innere Zerrissenheit der Linken« sinnierte. Doch diese Diagnose trifft zu. Trotz aller Putschvorwürfe hat der PT für die Kommunalwahlen in mehr als 3 000 Gemeinden Bündnisse mit drei der Parteien geschlossen, die federführend am Amtsenthebungsverfahren beteiligt waren.