kreative Prekariat in Manchester nach dem »Brexit«-Votum

Austreten ins Ungewisse

Drei Monate nach dem Referendum über den britischen Austritt aus der EU bleibt die weitere Entwicklung unklar. In Manchester, der größten Stadt im Norden Englands, hatte die Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt. Die Stadt ist bekannt für ihre kreative Szene, es gibt viele Studierende aus der EU.

Harriet Godden steht in ihrem sonnigem Hinterhof und gießt einen Himbeerstrauchsprössling, den sie vor ein paar Wochen in einen selbstgebauten Holzkasten gepflanzt hat. Sie wohnt mit ihrer Freundin Alanna McMorrow in einem typisch britischen Reihenhaus aus rotem Backstein im ehemaligen Arbeiterviertel Rush­olme in Manchester. Die 34jährige selbständige Künstlerin malt und stellt auch aus, verdient ihr Geld aber hautpsächlich mit selbstgenähten Puppen und Monstern, für die sie Biographien und Hintergrundgeschichten entwickelt. Dass sich vor drei Monaten die Mehrheit in Großbritannien in einem Referendum für den Austritt aus der EU entschieden hat, war für sie wie für viele andere Britinnen und Briten schockierend. »Mein erster Impuls war es, abzuhauen, irgendwohin, nach Neuseeland, Kanada, Hauptsache raus«, erzählt sie. Aber dann sei ihr klargeworden, dass sie nicht fliehen und »das sinkende Schiff verlassen« will, sondern dableiben, um die Sache irgendwie wieder besser zu machen. Sie will politisch aktiv werden und ihr direktes Umfeld mitgestalten. Damit fängt sie in ihrer Nachbarschaft an, den Nachbarn will sie etwa die gemeinsame Verschönerung des Hinterhofs vorschlagen.
Manchester war die Wiege der Indus­trialisierung, es ist eine traditionelle Handwerker- und Arbeiterstadt, heute aber vor allem eine junge und kreative Metropole. Während in London die großen Namen, Galerien, Mode- und Mu­siklabels sitzen, können sich junge Kreative in Manchester ausprobieren. »Manchester war schon immer kreativ, und einer der Gründe ist, dass es erschwinglich ist, hier zu leben«, sagt Alanna McMorrow. Für die 33jährige Fotografin war das auch der Grund, hierher zu ziehen. Ihrer Freundin zufolge hat die Musikszene einen großen Einfluss auf die restliche kreative Szene: »Sei es Hacienda und Factory Records oder Rock und Pop mit Oasis in den Neunzigern und elektronische Musik – es gab hier schon immer eine starke Musikszene und in vielen Vierteln und Vororten gibt es Kneipen, wo Bands auftreten und DJs auflegen und wo Partys veranstaltet werden.«
Das Northern Quarter, nördlich ans Stadtzentrum angrenzend, hat sich seit ungefähr 20 Jahren zum Treffpunkt der Szene entwickelt. »Als ich zum ersten Mal nach Manchester kam, bin ich im Northern Quarter herumgelaufen und war erstaunt, wie viele Plattenläden, Vintage-Kleiderläden, kleine Boutiquen und Cafés es auf so kleiner Fläche gibt«, sagt Harriet Godden. Die Musik-, Kunst- und Modeszene ist vom DIY geprägt, die Stadt ist sehr kosmopolitisch, aber klein genug, um Leute mit ähnlichen Interessen kennenzulernen für Kooperationen oder Projekte. Eine Umfrage unter Mitgliedern der Creative Industries Federation (CIF), eines Interessensverbands der Künste und kreativen Industrien, hat ergeben, dass 95 Prozent für den Verbleib in der EU gestimmt haben.
Kreativ und prekär
Das mag einer der Gründe dafür gewesen sein, dass in Manchester das Remain-Lager, die Unterstützer eines Verbleibs in der EU, beim Referendum mit knapp 60 Prozent der Stimmen seinen größten Erfolg im Nordwesten Englands hatte, auch wenn es insgesamt nicht für einen Sieg gereicht hat. »Während die Stadt Manchester und die Bezirke drumherum vorrangig fürs Bleiben gestimmt haben, waren die äußeren Bezirke für den Austritt«, fasst Kevin Gopal das Abstimmungsergebnis im städtischen Raum Greater Manchester zusammen. Er ist Chefredakteur der Obdachlosenzeitschrift Big Issue North, die in Nordengland von einem Team professioneller Journalisten und Redakteure produziert und von Obdachlosen verkauft wird. Das Ergebnis des Referendums war auch für ihn ein »Schock« und wie viele andere beschreibt er die allgemein Stimmung in den Tagen danach als eine Art Trauer. Alle Befürworter des Austritts als Nationalisten, verblendet oder rassistisch zu bezeichnen, sei aber auch nicht hilfreich. »Die Gründe für die Leave-Stimmabgabe waren sehr unterschiedlich«, sagt Kevin. »Gerade in Nordengland ging es vorrangig um eine Protestwahl. Die Leute haben die Schnauze voll von der Regierung der Konservativen, aber ebenso vom Labour-Establishment, das in allen Städten im Norden das Sagen hat.«
Welche Auswirkungen der Austritt hat, ist insgesamt noch nicht absehbar, doch auf Manchester könnte einiges zukommen. Professor Dimitris Papadimitriou ist Politikwissenschaftler an der Universität Manchester. »Die über 100 000 Studierenden in der Stadt spielen auf jeden Fall eine zentrale Rolle in der städtischen Ökonomie«, sagt er. Ein großer Teil davon kommt aus der EU. Es sei noch unklar, ob das Studieren an britischen Universitäten nach dem EU-Austritt für junge Europäer weniger attraktiv werde, so Papadimitriou. Klar sei jedoch, dass sich die derzeitige Ungewissheit nicht mit wirschaftlichem Wachstum verträgt. Besonders die größeren Universitätsstädte erhielten hohe Summen an EU-Fördergeldern. Dass die EU-Finanzierung gestoppt wird, steht fest, die Frage ist wann genau.
Für Künstlerinnen und Künstler war die Lage bereits vor dem Referendum prekär, Fördergelder sind schwer zu bekommen und in den vergangenen sechs Jahren den erheblichen Haushaltskürzungen zum Opfer gefallen. Da viele Fördergelder gerade für Kunst und Medien von der EU kommen, wird künstlerische Arbeit noch schwieriger. Doch Harriet Godden bleibt optimistisch: »Kunstschaffende sind generell anpassungsfähig und offensichtlich kreativ, so dass sie sich gegen Widrigkeiten durchsetzen können und es sie sogar stärkt. Vielleicht werden Leute wieder mehr zusammenkommen und gemeinsam Strategien entwickeln, um ohne Förderung zu arbeiten.« Alanna McMorrow gibt jedoch zu bedenken, dass wegen der steigenden Studiengebühren immer weniger Studierende aus armen Familien Kunst studieren werden, weil sie es sich nicht mehr leisten können.
Gegen das Recht zu bleiben
Auch Danny Reid zählt zu Manchesters kreativer Szene. Der 29jährige Designer arbeitet in einer Werbeagentur am Rand des Northern Quarter. Anders als die große Mehrheit der künstlerisch Tätigen hat er jedoch für den EU-Austritt gestimmt. »Der Hauptgrund für mich war die Einwanderung. Ich finde es falsch, dass alle zu uns kommen und Stütze bekommen können und Wohnungen zugeteilt kriegen. Einwanderung sollte mehr kontrolliert werden, so dass nur Leute reinkommen, die ein Handwerk können oder Ähnliches.«
Reid kommt aus Warrington, einer Stadt, die genau zwischen Liverpool und Manchester am Mersey liegt und an die Außenbezirke von Greater Manchester grenzt. Knapp über 54 Prozent hatten in Warrington für den EU-Austritt gestimmt. Reid begründet seine Entscheidung damit, dass in Warrington viele Polen lebten, die Sozialhilfe und Häuser zur Verfügung gestellt bekämen, während Einheimische auf Wartelisten für Sozialwohnungen landeten. Er kenne selbst keine Polen und habe auch generell nichts gegen polnische Einwanderer – es gebe einfach zu viele. Außerdem würden die Polen ihr Geld hauptsächlich nach Hause schicken, während sie es besser vor Ort ausgeben sollten. Da die Polen in Warrington in einem Viertel zusammenleben, komme es selten zu Kontakten. Reid räumt aber ein, dass ein Kennenlernen sinnvoll wäre, um zu erkennen, dass die Unterschied zwischen Einheimischen und Einwanderen gar nicht so groß seien.
Rund um das Referendum am 23. Juni hat es britischen Behörden zufolge mehr als 3 000 Anzeigen wegen hate crimes gegeben, auch danach sei die Rate noch deutlich höher als im Vorjahr. Am 27. August wurde etwa ein 40jähriger polnischer Fabrikarbeiter so schlimm von einer Gruppe von sechs Teenagern vor einer Pizzeria in Harlow in der Nähe von London zusammengeschlagen, dass er im Krankenhaus verstarb. Die Jugendlichen hatten gehört, wie er am Telefon Polnisch sprach, und daraufhin angefangen, ihn zu schlagen.
Ewa M. und Tomaszc B., die aus Polen kommen und seit zehn Jahren in Großbritannien leben, kennen solche Geschichten, bleiben aber relativ entspannt. Vergangenes Jahr haben sie sich ein Haus in Hulme in Manchester gekauft, hauptsächlich, weil sie oft unterwegs sind und eine längere Reise planen. Dann wollen sie das Haus vermieten, aber sichergehen, dass sie irgendwohin zurückkehren können und sich keine Gedanken um ihre Sachen machen müssen. Auch sie überraschte das Ergebnis des Referendums, das just neun Monate kam, nachdem sie sich entschlossen hatten, sich durch den Hauskauf in Großbritannien dauerhaft niederzulassen. »Es war ein großer Schock«, sagt Tomaszc. »Ich konnte es einfach nicht glauben«, ergänzt Ewa, »unsere britischen Feunde haben sich bei uns entschuldigt, sie haben sich für das Ergebnis geschämt.«
Für Ewa wird es kein Problem mit dem Bleiben geben. »Niemand wird sagen: Packt eure Sachen und geht zurück nach Polen«, sagt sie. »Der ganze Prozess hat noch nicht einmal begonnen und da wir seit zehn Jahren hier leben, steht uns die Aufenthaltsgenehmigung zu. Wir können uns um permanentes Bleiberecht bewerben und wir können einen britischen Pass beantragen.« Wenn man als EU-Bürger fünf Jahre ohne Unterbrechung im Vereinigten Königreich gelebt hat, wird einem permanentes Bleiberecht gewährt. Die Regierung hat dies zugesichert, aber der Verwaltungsaufwand wird enorm sein, wenn alle der über zwei Millionen EU-Bürger, die derzeit im Land leben, ihre Papiere einfordern. Um als Ausländer einen britischen Pass zu beantragen, muss man viel Bürokratie und Kosten bewältigen: seit März betragen die Gebühren für den Antrag 1 236 Pfund (1 440 Euro). Man muss dafür nicht nur fünf Jahre in Großbritannien gelebt, sondern vor allem auch gearbeitet haben.
Tomaszc will abwarten: »Wenn wir in zwei oder drei Jahren herausfinden, dass es ein Problem gibt, werden wir die Staatsbürgerschaft beantragen, weil wir hierbleiben wollen.« Es sei unmöglich, auf einmal zwei Millionen EU-Bürger rauszuwerfen. »Für neue Einwanderer wird es schwieriger«, gibt er zu bedenken, aber für diejenigen, die schon lange im Land leben, werde sich nicht viel ändern, glaubt er. »Wir werden hier gebraucht.« Tomasz arbeitet in einer Fabrik, die Baufahrzeuge herstellt, etwas außerhalb Manchesters. Ewa hat einen Doktortitel in Naturwissenschaften und arbeitet an der Universität Manchester als Postdoc in der Zellforschung.
In der Schwebe
Kurz nach dem Referendum hatten die beiden Künstlerinnen Harriet Godden und Alanna McMorrow das Bedürfnis, mit all ihren Freundinnen und Freunden ausgiebig über die Situation zu reden. »Wir waren wütend und verwirrt und wussten nicht, was wir denken oder tun sollten«, so McMorrow. Weil sie kaum Austrittsbefürworter kannte, habe sie nicht das Gefühl gehabt, dass diese das Referendum wirklich gewinnen könnten. Eines der Hauptprobleme sei das fehlende Gespräch zwischen verschiedenen Communities oder sogar Familien gewesen, so Godden. Ihre Oma, die auf dem Land in Yorkshire wohnt, wollte Leave wählen und ließ kaum über ihre Entscheidung mit sich reden. »Ich musste mich mit ihr hinsetzen und ihr das Gespräch förmlich aufzwingen. Ich habe sie gefragt, warum willst du für den Austritt stimmen?« Da die Oma alleine lebe und recht isoliert sei, habe sie ihre Informationen vor allem aus der rechten Boulevardpresse erhalten und die üblichen Floskeln und Lügen zu Einwanderung und Übervölkerung wiederholt.
Auch Frust hatte eine Rolle gespielt. Bleiben hätte bedeutet, für den Status quo zu stimmen, »dass alles so bleibt, wie es ist«, so Alanna McMorrow – nicht besonders aufregend, während der EU-Austritt Veränderung versprach. »Das Leben ist für viele Leute scheiße, unsichere Jobs, Jugendarbeitslosigkeit, steigende Armut, immer mehr Ungleichheit. Ist doch klar, dass man dann für Veränderung stimmt und hofft, dass sich irgendwas zum Besseren wendet, auch wenn dafür Einwanderer als Sündenböcke herhalten müssen, die angeblich an der Misere schuld sind.«
Nach der anfänglichen Wut und Ungläubigkeit hofften viele im Umkreis der beiden Künstlerinnen, dass das Ergebnis einfach rückgängig gemacht oder nicht anerkannt werde. »Jetzt scheint es vergessen, weil die Leute nicht darüber reden«, sagt Harriet Godden, »alles hängt in der Luft, wir sind in einem seltsamen Zwischenzustand, da für den Austritt gestimmt wurde, wir aber noch nicht ausgetreten sind«. Politiker redeten von einem zweiten Referendum,während Premierministerin Theresa May darauf beharre, dass der Austritt definitiv erfolgen werde. »Aber beides kann ja nicht sein, ein zweites Referendum und der definitive Austritt«, so McMorrow. »Wir sind immer noch in genau der gleichen Lage, in der wir vor drei Monaten waren, und gerade weil nichts passiert und wir so in der Schwebe hängen, ist es zum Verzweifeln.«