Porträtiert die britische Multimediakünstlerin Cecile Emeke

Bis in die Haarspitzen der Diaspora

Sechs Monate vor ihrem Abschluss und trotz Bestnoten schmiss die Britin Cecile Emeke ihr Mathematikstudium hin und widmete sich stattdessen dem Filmemachen. Mit ihrem Projekt »Strolling« gibt die sie der weiblichen schwarzen Diaspora ein Gesicht.

Nur ein Ignoranter glaubt, Haare ­seien ein nachrangiges Detail (so wie Mediziner von »Hautanhangsge­bilde« sprechen), eine schiere Eitelkeit, eine Banalität. Dick oder dünn, blond oder brünett, Bob oder Lockenmähne ist nicht entscheidend. Sehr wohl aber: glatt oder kraus. Auffallend viele schwarze Autorinnen – angefangen bei Taiye Selasi über Carolivia Herron bis Maya Angelou und Toni Morrison – äußern sich zum Thema Haupthaar in ihren Werken.
In Chimamanda Ngozi Adichies vielbeachtetem Roman »Americanah« sind Haartrachten ein Barometer für den Grad an Unterdrückung. Die Protagonistin Ifemelu ist überzeugt, Obama wäre nicht Präsident der USA geworden, trüge Michelle ihr Haar natürlich, anstatt es zu glätten. Nachdem Ifemelu 13 Jahre in den Vereinigten Staaten gelebt und sich als erfolgreiche Bloggerin etabliert hat, beschließt sie, in ihre Heimat Nigeria zurückzukehren. Vor ihrer Abreise lässt sie sich Zöpfe flechten, denn vom Glätten – »Glätten ist wie Gefangensein« – hat sie die Nase voll: Die aggressiven Chemikalien haben Teile ihrer Kopfhaut verätzt.
Haare sind auch in Cecile Emekes Youtube-Serie »Strolling« ein häufig wiederkehrendes Motiv. Emeke, eine britische Multimedia-Künstlerin mit jamaikanischen Wurzeln, Bob-Haarschnitt, Nasen-Piercing und scheuem Blick, verleiht mit »Strolling« der schwarzen weiblichen Diaspora eine Stimme. Bisher hat sie dafür Video-Clips in Großbritannien, Frankreich, Italien, Jamaika, den USA und den Niederlanden gedreht. Weitere Länder sind geplant; irgendwann einmal sollen die Drehorte von »Strolling« den Globus umspannen. In Deutschland ist die Mittzwanzigerin noch weitgehend unbekannt, in den USA und Großbritannien wächst ihre Fangemeinde stetig. In den vergangenen zwei Jahren haben zahlreiche Medien über ihre filmische Arbeit berichtet, vom Guardian und der BBC bis zum New Yorker und dem Magazin Vice.
Emeke finanziert »Strolling« durch Crowdfunding. Sie habe keine Lust, sich um staatliche Filmförderung zu bewerben, sagte sie der New York Times. Der bürokratische Aufwand sei ihr zu hoch, und reinreden lassen wolle sie sich auch nicht.
Ihr Konzept ist simpel: Emeke ­spaziert mit ihren Interviewpartnerinnen – ein paar Mal kommen auch Männer zu Wort – durch deren Heimatstädte. Dabei reden sie über ­Diskriminierung, Feminismus und ­Kapitalismus. Die Interviews dauern mitunter sechs Stunden, sind für den Zuschauer aber auf un­gefähr zehn Minuten heruntergekürzt und mit HipHop-Klängen von 2Pac, J Dilla und Queen Latifah unterlegt.
Über Emekes Gesprächspartner ­erfährt der Zuschauer zunächst recht wenig: Ihre Nachnamen oder ihr ­Alter werden nicht genannt, dafür aber ihre Twitter-Accounts. Sehr ­offen erzählen sie, was sie bewegt. Unter anderem ist es das Thema Haare. Haare als Politikum. Diskriminierung zeige sich daran, welche Art von Haar als normal erachtet werde, sagt ein junger Mann namens Abraham. Er hasse es, dass Fremde andauernd sein Haar anfassten. »Was bin ich, ein verdammtes Einhorn?« Kevin, ein Londoner Künstler, glaubt: »Gleichheit ist dann erreicht, wenn ›Head and Shoulders‹-Shampoo neben ›Dark and Lovely‹-Produkten im Regal steht.« Die Produktdesigner der Kosmetikmarke Johnson & Johnson hätten wohl zu viele Drogen genommen – wie sonst seien sie auf die Idee gekommen, Cremes mit der Aufschrift »für normale bis dunkle Haut« zu versehen?
Anne, eine angehende Kosmetikerin aus Frankreich, berichtet von ­einer Dozentin, die ihre Frage nach Schminktipps für dunkle Haut nicht habe beantworten können. Im Lehrplan sei dieser Aspekt nicht vor­gesehen gewesen. »Und das, obwohl schwarze Frauen nachweislich zwanzigmal so viel für Kosmetika ausgeben wie weiße«, sagt Anne, den Tränen nahe.
Diskriminiert fühlen sich Emekes Gesprächspartner auch durch eine fehlende mediale Repräsentation. »Neulich habe ich mir eine von einer Schwarzen moderierte Wissenssendung angesehen. Vor Glück hätte ich fast geweint«, sagt Kevin, der Londoner Künstler. Eine junge Frau namens Simone spricht von einer großen Traurigkeit, die sie befallen habe, nachdem ihr mit sechs Jahren klar geworden sei, dass in ihren Büchern nur weiße Charaktere vorkommen. Kevin sagt, er sei von einem Lehrer in die Ecke gestellt worden, nachdem er einen schwarzen Weihnachtsmann gezeichnet habe. »Was machst du da für einen Mist? Der Weihnachtsmann ist verdammt noch mal weiß«, habe der Lehrer gebrüllt. »Auch in der Kirche ist immer alles weiß«, sagt Kevin: »Jesus, die Engel, überhaupt alles Heilige.« An Jesus’ vermeintlich weißer Hautfarbe hat er große Zweifel. »Dort, wo der angeblich herkommt, ist das doch sehr unwahrscheinlich.«
In Fernsehserien passiere gerade das Gegenteil, beobachtet Vanessa, selbst Schauspielerin. Formate würden »cooler«, indem man das Drehbuch »ghettoisiere«. Bei einem Vorsprechen habe man sie kürzlich aufgefordert, einen »schwarzen Akzent« nachzumachen. »Was zum Teufel soll der schwarze Akzent sein«, echauffiert sie sich. Auf ihren fragenden Blick hin habe der Casting-Direktor nachgelegt: »Versuche, ein bisschen mehr wie eine Sklavin zu klingen.«
In Institutionen wie der Tate Modern seien schwarze Künstler stark unterrepräsentiert, bemängelt Kevin. »Als ob unsere Kunst ein bestimmtes Level noch nicht erreicht hätte.« Die Kuratorin einer New Yorker Galerie, die eine Ausstellung mit seinen Bildern plante, habe ihm geraten, seine Identität zu verschleiern – um seine Hautfarbe nicht preiszugeben: »Mach doch einen auf Banksy. Muss doch niemand wissen, wer hinter deinen Bildern steckt.«
Kevin ist der Meinung, als Schwarzer werde man andauernd in Schubladen gesteckt. Erst neulich habe jemand festgestellt, seine Bilder seien »untypisch für einen schwarzen ­Fotografen«. Sich gesund zu ernähren, würde als »weißes Verhalten« gewertet. Schwarzsein fühlt sich für ihn an »wie auf eine Party nicht ­eingeladen zu sein«.
Am schmerzlichsten vermissen Emekes Gesprächspartner – insbesondere die, die nicht in Großbritannien oder den USA leben – ein Gemeinschaftsgefühl und Solidarität unter Schwarzen. Die Französinnen Gaëlle and Christelle haben sich im Internet kennengelernt. »In Frankreich ist es echt schwer, dich mit anderen schwarzen Frauen zusammenzutun«, sagt Gaëlle. Beide beneiden Briten und Amerikaner um ihre schwarze Kultur, allem voran in der Musik. In Frankreich verhindere der Staat jede Form von Anderssein. »Alle müssen wir gleich sein. Ich weiß nicht mal, wie viele Schwarze es in Frankreich gibt. Volkszählungen sind verpönt«, sagt Christelle.
Allein im Sprachgebrauch zeige sich ihr Anderssein. Viele benutzten statt »noir« das Wort »black«, »la ­fille black«. »Als ob schwarze Hautfarbe und französische Staatsan­gehörigkeit sich ausschließen«, sagt Gaëlle. Auch Christelle bemängelt fehlende schwarze Rollenvorbilder. »Franzosen werden immer als Weiße mit einem verdammten Käse in der Hand dargestellt.« Sie wünscht sich, dass eines Tages schwarze Geschichte und schwarze Literatur in den Lehrplan integriert sind. »Meine Kinder sollen Frantz Fanon in der Schule lesen.«
Fanons bekanntestes Werk heißt »Schwarze Haut, weiße Masken«. Dieses Bild wird von vielen der Interviewten aufgegriffen. Der Pariser Kévi sagt: »Meine Familie verstellt sich, sobald sie die Tür verlässt. Morgens ziehen sie ihre weißen Masken an, abends wieder aus.«
In Italien ist die Situation besonders verheerend. Zwei schwarze Mailänderinnen Mitte Zwanzig – ihre Namen werden nicht genannt – empören sich darüber, dass sie mit 18 Jahren die italienische Staatsangehörigkeit beantragen mussten. Obwohl sie in Italien geboren und aufgewachsen sind.
Viele der interviewten Frauen klagen über Beleidigungen seitens schwarzer und arabischstämmiger Männer. Die schrieben mitunter auf Twitter: »Date keine Schwarzen. Die sind schmutzig und haben Ebo­la oder Aids.« Menschen der eigenen Hautfarbe zu daten, werde als Niederlage angesehen. »Wenn du Erfolg haben willst, datest du außerhalb deines Lagers.« Als schwarze Frau würde man automatisch hypersex­ualisiert, sagt Vanessa, die Schauspielerin. In Clubs werde sie oft von Männern angefasst. »So, wie du tanzt!« sei die Rechtfertigung.
Die in »Strolling« vermittelte Befindlichkeit junger Schwarzer ist ­besorgniserregend. Die Serie zeigt, dass Diskriminierung aufgrund von Hautfarbe auch im 21. Jahrhundert noch ein Thema ist. Vieles muss ­gutgemacht werden. Angefangen bei der Geschichtsschreibung. Die BBC geht nun einen ersten Schritt mit der Serie »A Black History of Britain«. Gezeigt werden soll, »wie schwarze Geschichte unsere Welt beeinflusst hat«, so die BBC auf ihrer Homepage. Allein dieser Satz zeigt, wie tief Rassismus in Denkmustern verwurzelt ist: Sie gegen uns.
Kein Wunder, dass jahrelange, systematische Diskriminierung Spuren in der Psyche hinterlässt. Der US-amerikanischen Behörde für die Gesundheit von Minderheiten zufolge haben Schwarze ein 20 Prozent höheres ­Risiko, psychische Erkrankungen zu entwickeln. Auch Cecile Emeke litt zeitweise an Depressionen, wie sie auf der Internetplattform Afropunk schreibt. Innerhalb der schwarzen Community sei es noch immer ein Tabu, über psychische Erkrankungen zu sprechen. Dagegen solle in »Strolling« alles zur Sprache kommen, schreibt Emeke. Von Gentrifzierung bis Depressionen.