Bewaffnete Kämpfe in Libyen

Chaos nach der Intervention

Ein britischer Untersuchungsbericht kritisiert die Entscheidung von David Cameron und Nicolas Sarkozy, 2011 gegen den libyschen Diktator Muammar al-Gaddafi zu intervenieren. Derweil entbrennen in Libyen bewaffnete Auseinandersetzungen um die Erdölförderung.

Sieger sehen anders aus. Der ehemalige britische Premierminister David Cameron stolperte erst vor einem knappen Vierteljahr über sein Taktieren beim Referendum über den EU-Austritt, da kommt weitere Kritik gerade ungelegen. Ähnlich dürfte es Nicolas Sarkozy gehen, der 2012 als französischer Präsident abgewählt wurde, bei den Präsidentschaftswahlen im kommenden April jedoch erneut kandidieren will. Beide dürften derzeit kein Interesse daran haben, auf die desaströse Lage in Libyen angesprochen zu werden.
Es ist noch nicht so lange her, da sah das anders. Vor fünf Jahren, am 15. September 2011, ließen Cameron und Sarkozy sich in Bengasi feiern. Drei Wochen zuvor war die Kontrolle des Regimes von Muammar al-Gaddafi, seit 42 Jahren an der Macht, über die Hauptstadt Tripolis gebrochen worden. Gaddafi war zu diesem Zeitpunkt noch am Leben, herrschte aber nur noch über einen kleinen Teil des Landes. Fünf Wochen später wurde er in der Nähe seiner Geburtsstadt Sirte von Rebellen aufgespürt und dann getötet.
Am Mittwoch voriger Woche legte ein Ausschuss des britischen Parlaments, der mehrheitlich aus Abgeordneten der Konservativen Partei besteht, der auch Cameron angehört, nun einen Untersuchungsbericht vor. Darin wird Cameron eine Schlüsselrolle bei der Entscheidung zugeschrieben, ab März 2011 militärisch in Libyen zu intervenieren. Die Folgen dieser Entscheidung werden im Bericht als desaströs beschrieben.
Libyen sei heute, fünf Jahre später, ein failed state, schreiben die Abgeordneten. Seinerzeit habe man das Gewicht islamistischer Fraktionen innerhalb der Rebellion gegen das Gaddafi-Regime unterschätzt. Vielmehr habe man sich auf »irrtümliche Annahmen und ein ungenügendes Verständnis des Landes und seiner Situation« gestützt. So resümiert der Ausschussvorsitzende Cris­pin Blunt: »Die Handlungen des Vereinigten Königreichs in Libyen waren Teil einer Intervention, die schlecht vorbereitet war und deren Ergebnisse wir noch heute verspüren.«
»Wir haben uns vom französischen Enthusiasmus mit hineinziehen lassen«, zitiert die konservative Pariser Tageszeitung Le Figaro einen anderen britischen Parlamentarier. Unter Berufung auf Sidney Blumenthal, einen Berater der US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton, vermuten die britischen Abgeordneten fünf Gründe für die Entscheidung Sarkozys zur Intervention, von der man sich in Großbritannien habe beeinflussen lassen, während Angela Merkel zur selben Zeit abwinkte. Sarkozy wollte demnach seine persönlichen Wahlchancen verbessern, Frankreichs Einfluss in Nordafrika steigern und die Rolle seiner Armee ausbauen, einen Widersacher im Ringen um Hegemonie in Afrika – Gaddafi – ausschalten sowie Anteil an der libyschen Ölindustrie nehmen.
An all dem mag etwas Wahres dran sein – dem französischen Konzern Total wurden nach der Militärintervention 35 Prozent der Anteile am libyschen Roh­öl zugesagt –, doch darin erschöpfen sich die Gründe nicht. Wichtig war bei Sarkozy sicherlich auch das Motiv, das Ausmaß seiner eigenen, noch nicht lange zurückliegenden Komplizenschaft mit der libyschen Diktatur vergessen zu machen. Im Élysée-Palast herrschte damals die Angst, im Zuge des »arabischen Frühlings« könne die libysche Diktatur auch ohne französisches Zutun stürzen und deren vormalige Unterstützung durch Frankreich könne dann mit Hilfe von Dokumenten des Regimes der Weltöffentlichkeit enthüllt werden. Die französische Firma Qosmos hatte Gaddafi die Technologie für die massenhafte Überwachung des Internets geliefert, Sarkozy hatte im Juli 2007 ein Nuklear- und Rüstungsabkommen mit Gaddafi in Tripolis unterzeichnet.
Das dürften auch die Gründe sein, warum Sarkozy und sein Umfeld nun eher ungern von Libyen hören. Seit einem Jahr läuft gegen Sarkozys ehemaligen Berater und Innenminister in den Jahren 2011/12, Claude Guéant, ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren, er unterliegt eingeschränkter Bewegungsfreiheit. Es wird vermutet, er habe im Frühjahr 2007 eine Schlüsselrolle bei der Beschaffung libyscher Finanzmittel für den Wahlkampf Sarkozys gespielt. Damals waren die Beziehungen eines Teils der französischen Konservativen zum libyschen Regime noch ungetrübt. Vier Jahre später rissen sie das Ruder herum, nachdem andere mit Frankreich befreundete Regimes – wie das in Tunesien – bereits gestürzt waren und es wahrscheinlich schien, dass man Gaddafi nicht mehr würde halten können. Da wollte die französische Regierung sich als potente militärische Unterstützerin eines Umsturzes profilieren, um sich an die Spitze der Bewegung zu setzen.
Derzeit ist die innenpolitische Situation in Libyen chaotisch. Rund 200 Milizen, die zum Großteil aus der Rebellion gegen das Gaddafi-Regime hervorgegangen sind, halten jeweils einen Teil der Macht und wachen eifersüchtig darüber, dass sie ihre Waffen behalten können. Dies ist nicht nur eine Folge der Militärintervention und der bewaffneten Rebellion, sondern hängt auch damit zusammen, in welchem Zustand das alte Regime Libyen hinterließ. Gaddafi, der alle politischen Parteien verboten hatte, stützte sich in seiner Herrschaftsausübung auf reaktivierte tribale Strukturen, die im ganzen Land Spaltungen hinterließen.
Seit den Parlamentswahlen vom Juni 2014 stehen sich zwei rivalisierende Regierungen und Parlamente gegenüber, wobei die Machthaber in Tripolis den Westen Libyens beherrschen und ein Parlament in Tobruk eine andere Regierung stützt. Unter Vermittlung des deutschen UN-Sonderbeauftragten Martin Kobler wurden im vergangenen Winter im marokkanischen Skhirat Verhandlungen abgeschlossen, die eine »Nationale Einheitsregierung« (GNA) herbeiführen sollten. Eine als solche bezeichnete dritte Regierung wurde unter Fayez Sarraj gebildet. Der Ministerpräsident reiste Ende März in Libyen ein. Anfang April unterstellten sich seiner Regierung die libysche Nationalbank sowie die Erdölgesellschaft NOC. Dennoch konnte die GNA bislang nicht ihr Gewaltmonopol im Land durchsetzen.
Am Sonntag begann eine Gegenoffensive der der GNA loyalen Streitkräfte, um den sogenannten Erdöl-Halbmond wieder einzunehmen. Dieses Gebiet liegt zwischen den Städten Zuwetina, Brega, Ras Lanuf – von wo aus die Öltanker ablegen – und al-Sidr. In der Woche zuvor hatte der Militärchef der ostlibyschen Regierung von Tobruk, General Khalifa Haftar, die Kontrolle über diese ökonomische Schlüsselregion des Landes übernommen. Seitdem wird der General, den viele bis dahin für militärisch eher unberechenbar und einen Aufschneider hielten, international sehr viel ernster genommen.
Der 73jährige war früher einmal ein Vertrauter Gaddafis, wurde jedoch vom Diktator während der libyschen Intervention im Tschad in den achtziger Jahren im Stich gelassen, als er in Gefangenschaft geriet. Daraufhin wechselte Haftar ins Lager der Dissidenten und wurde zunächst von den USA zum Opponenten aufgebaut, bevor diese sich 2003 nach Gaddafis Erklärung zum Verzicht auf ABC-Waffen deutlich an dessen Regime annäherten. Heutzutage unterstützen Haftar vor allem Ägyptens Präsident Abd al-Fattah al-Sisi, die Vereinigten Arabischen Emirate sowie mit einigen Abstrichen Russlands Präsident Wladimir Putin. Die US-amerikanische und die britische Regierung vertrauen ihm weniger, ließen ihm jedoch bei seinem Kampf gegen islamistische Milizen, die ab 2012/13 vorübergehend Teile von Bengasi kontrollierten, Unterstützung zukommen. Auch Frankreich spielt ein ausgeprägtes Doppelspiel zwischen Unterstützung für die GNA auf der einen und militärischer Hilfe für Haftar auf der anderen Seite.
Die Kämpfe zwischen Truppen der GNA und Haftars ließen rund 14 Tage lang auch die Offensive gegen die Jihadisten des »Islamischen Staats« (IS), die sich seit anderthalb Jahren in Sirte festgesetzt hatten, in den Hintergrund treten. In der 2013 noch etwa 80 000 Einwohner zählenden Stadt kontrolliert der IS nur noch einige Straßenzüge, liefert aber erbitterte Abwehrgefechte gegen die Erstürmung der letzten Reste seiner Hochburg. Am Sonntag nahmen GNA-Einheiten die Offensive wieder auf und konnten ein Lazarett der Jihadisten sowie eine Werkstatt für Autobomben einnehmen. Italien will 200 Fallschirmjäger zur Unterstützung entsenden.