Raucherecke

»Hauptstadt des Tötens«

Beatrix von Storch durfte nicht in der ersten Reihe laufen. Anders als im Vorjahr war die stellvertretende Bundesvorsitzende der AfD beim zwölften »Marsch für das Leben« in Berlin nicht ganz vorn dabei. Der vom »Bundesverband Lebensrecht« (BVL) organisierte Schweigemarsch ist die jährliche zentrale Aktion fundamentalistischer Abtreibungsgegner. Er fand in diesem Jahr unter dem Motto »Kein Kind ist unzumutbar« und unter besonderen Um­ständen statt: einen Tag vor den Wahlen in Berlin, parallel zu den Großdemons­trationen gegen Ceta und TTIP und einen guten Monat, nachdem der Gemeinsame Bundesausschuss ein Verfahren eröffnet hat, das den Bluttest auf Trisomien zur Regelleistung der Krankenkassen machen könnte. Folgerichtig bestimmte das Thema Pränataldiagnostik die Auftaktkundgebung des Marsches. Allein vier Redner beschäftigten sich mit den selektiven und behindertenfeindlichen Implikationen des Tests, darunter der ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, und eine junge Frau, die mit Trisomie 21 lebt.
Der Vorsitzende des BVL, Martin Lohmann, nutzte seine Rede für einen heftigen Angriff auf Berlins Regierenden Bürgermeister ­Michael Müller. Dessen Haltung sei »antidemokratisch« und Berlin die »Hauptstadt des Tötens«. Alexandra Lindner, Vorsitzende der Organisation Alfa (»Aktion Lebensrecht für alle«), griff mit scharfen Worten die Praxis der Schwangerschaftskonfliktberatung an, die von den »falschen Stellen« angeboten werde.
Wie von Lohmann zuvor angekündigt, lief von Storch diesmal nicht in der ersten Reihe mit. Prominentester Teilnehmer war der seit einem Jahr amtierende katholische Erzbischof von Berlin, ­Heiner Koch. Nach Kritik an seiner angekündigten Teilnahme hatte er dem RBB gesagt, er werde sich nicht vereinnahmen lassen. Er wolle vielmehr zum Ausdruck bringen, dass »nirgendwo Leben ausgegrenzt« werden dürfe. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg hatte sich deutlich von der Veranstaltung distanziert. Man habe »inhaltliche Differenzen« und lehne die »aggressive Art und Weise« ab, in der die Organisatoren ihre Positionen vertreten.
Lohmann behauptete noch während des Marschs, es gebe 7 500 Teilnehmer. Deren Zahl sei damit erneut gewachsen. Nach Polizeiangaben nahmen 6 000 Menschen teil. Anders als die Polizei berücksichtigte das antifaschistische Pressearchiv Apabiz nur die über 16jährigen, weil nur bei denen davon auszugehen sei, dass sie mehr oder weniger selbstbestimmt an der Veranstaltung teilgenommen haben. So kam das Apabiz auf 4 500 Teilnehmer. Dessen Sprecher Ulli Jentsch resümierte am Rande des Abschlussgottesdienstes: »Das ist eine deutliche Stagnation der Teilnehmerzahl. Seit zwei Jahren wächst der Marsch nicht mehr.«
Das antifaschistische und queerfeministische Bündnis »What the fuck?!« hatte zu einer Demonstration gegen den Marsch und zu Blockaden aufgerufen. Wegen der Blockaden musste die Route der Abtreibungsgegner mehrfach verändert werden. An beinahe jeder Absperrung schallten den Abtreibungsgegnern Sprüche wie »Kon­dome, Spirale, Linksradikale« oder kein »Kein Gott, kein Staat, kein Patriarchat« entgegen.