Sportler in den USA weigern sich, zur Nationalhymne aufzustehen

»Love it or leave it«

Aus Protest gegen Rassismus weigern sich immer mehr Sportler in den USA, zur Nationalhymne aufzustehen. Aber nicht nur in dieser finden sich höchst bedenkliche Passagen.

Die US-amerikanische Rechte hat in Colin Kaepernick, dem Quarterback der San Francisco 49ers, ein neues Feindbild gefunden. Der Sohn eines schwarzen Vaters und einer weißen Mutter weigert sich seit Wochen, zu den Tönen der Nationalhymne strammzustehen, und fällt stattdessen auf die Knie (genauer: auf ein Knie). Nicht nur sein Teamkollege Eric Reid tut es ihm mittlerweile gleich, überall im Land ahmen vor allem Highschool-Footballspieler die Geste nach. Ganze keineswegs nur aus ­afroamerikanischen Spielern bestehende Teams knien mittlerweile aus Solidarität mit Kaepernick und aus Protest gegen den Rassismus in den USA und die oft tödliche Polizeigewalt. Kaepernick begründet seine Weigerung, sich zur Hymne zu erheben, so: »Dieses Land steht für Freiheit, Unabhängigkeit und Gerechtigkeit für alle. Derzeit bekommen das aber nicht alle und ich solidarisiere mich weiter mit den Unterdrückten. Erst wenn es wesentliche Veränderungen gibt, stehe ich wieder auf.« Der Footballstar hat sich die Nationalhymne nicht nur wegen ihrer zentralen Bedeutung für das US-amerikanische Verständnis von Patriotismus aus­gesucht. Im Text findet sich eine Passage, die nicht ganz zum Image der Hymne als Lied der Tapferen und Freien passen will.
In den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts taucht zum ersten Mal der Ausdruck »Herrenrasse« auf, und zwar gleichzeitig in zwei Publikationen. Einmal im »Essay über die ­Ungleichheit der menschlichen Rassen« des französischen Protorassisten Joseph Arthur de Gobineau und ein weiteres Mal im Gedicht »The Hireling and the Slave« des amerikanischen Politikers und Sklavereibefürworters William J. Grayson. Wer von wem inspiriert wurde, ist nicht mehr bekannt, aber der Titel von Graysons Poem, in dem er die weiße master race dafür pries, die »schwarzen Wilden« mittels Sklaverei »gezähmt, ­erleuchtet und kultiviert« zu haben, bezog sich auf eine Strophe aus »The Star-Spangled Banner«, jenem Gedicht von Francis Scott Key, das 1931 zum Text der amerikanischen Nationalhymne werden sollte:
»No refuge could save the hireling and slave / From the terror of flight or the gloom of the grave, / And the star-spangled banner in triumph doth wave / O’er the land of the free and the home of the brave.«
Dass der Autor dieser Zeilen ein Sklavenhalter war, ist weithin bekannt – interessant wird obige Passage, wenn man bedenkt, dass im amerikanisch-britischen Krieg von 1812 einige Schwarze auf Seiten der Briten kämpften, die ihnen die Freiheit versprochen hatten. Sie bildeten sogar ein eigenes Regiment, die »Colonial Marines«. Viele Historiker und Literaturwissenschaftler gehen heutzutage davon aus, dass mit den »Tagelöhnern und Sklaven«, die keine Zuflucht vor dem wohl als gerecht interpretierten Tod bewahren konnte, genau diese schwarzen Soldaten gemeint waren. Das Wissen darum verbreitet sich und immer mehr Afroamerikaner fragen sich, ob sie eine Hymne ehren sollen, die in einer ­ihrer Strophen einen Teilabschnitt ihrer Geschichte verächtlich macht.
Die Rechte reagiert erwartungsgemäß mit love it or leave it, der US-Version von »geh doch nach drüben«. Donald Trump empfahl Kaepernick, sich »ein Land zu suchen, das für ihn besser funktioniert«. Der Star der San Francisco 49ers und viele, die sich mit ihm solidarisieren, werden mit Hassbotschaften und Morddrohungen eingedeckt. Auch Kinder geraten ins Visier der beleidigten Patrioten. Die Beaumont Bulls, ein texanisches Schüler-Footballteam mit Spielern im Alter zwischen elf und zwölf Jahren, müssen beispielsweise derzeit einem rassistischen Shitstorm standhalten. In Postings auf Facebook und Twitter drohen Rassisten den Kindern mit Folter und Lynchmord. Der Riss zwischen Antirassisten und rechten Patrioten zieht sich durchs ganze Land ebenso wie durch viele Sportmannschaften. Während die ethnisch gemischte Footballmannschaft von Garfield im Bundesstaat Washington geschlossen zur Nationalhymne kniete, bekam ein schwarzer Spieler aus Brunswick, Ohio, unverhohlenen Rassismus seiner weißen Teamkollegen zu spüren, die in der Umkleidekabine gegen »Nigger« hetzten.
Sportler, die auf das Abspielen der Nationalhymne nicht mit der er­warteten Ergriffenheit reagieren, erregen freilich nicht nur in den USA immer wieder die Gemüter. Bei den Olympischen Spielen in Rio musste sich der deutsche Diskuswerfer Christoph Harting zum Beispiel von der Welt vorwerfen lassen, sich »pubertär« verhalten zu haben, weil er es gewagt hatte, zum Deutschland-Lied ein paar Faxen zu machen. Wer noch denken kann, dem war Hartings Verhalten sympathisch. Was die Deutschen zu ihrer Hymne erkoren haben, ist ein schrecklich pathetisches, gleichzeitig höchst aggressives Lied. Dessen offiziell nicht mehr gesungene erste Strophe »Deutschland, Deutschland über alles« war für Friedrich Nietzsche »vielleicht die blödsinnigste Parole, die je gegeben worden ist« (Nachgelassene Fragmente, 1884).
Nicht nur aus Gründen politischen Bewusstseins ist es nicht immer leicht, Hymnen ernst zu nehmen. Manchmal ist das, was patriotische Wallungen erzeugen soll, von so ausgesuchter Lächerlichkeit, dass es nicht einmal persifliert zu werden braucht, um komisch zu wirken. ­Österreich ist diesbezüglich ganz vorne mit dabei. Schon beim »Land der Hämmer«, das in der Nationalhymne besungen wird, muss man zumindest schmunzeln. Die Oberösterreichische Landeshymne aber fängt ­allen Ernstes mit folgendem Vers an: »Heimatland, Heimatland / hab dich so gern / wie ein Kindlein seine ­Mutter / wie ein Hündchen seinen Herrn.« Martialisch sind viele National­hymnen, aber die algerische ragt besonders heraus: »So nahmen wir die Trommeln des Schießpulvers als unseren Rhythmus und den Klang von Maschinengewehren als unsere Melodie.« Vietnam steht dem kaum nach: »Der Weg zum Sieg führt über die Leichen der Feinde.« Einen Abstecher ins Reich der Märchen macht die Hymne von Andorra: »Ich wurde als Fürstin geboren, als Jungfrau, neutral zwischen den Nati­onen. Ich bin die einzig übriggebliebene Tochter des karolingischen Reiches.« Ängstlich nach Osten blickend singen die Ukrainer: »Noch sind der Ukraine Ruhm und Freiheit nicht gestorben.« Leider nur fiktiv ist die Nationalhymne des Karibik-Staats Cascara aus dem Film »Water«. Da die gesamte Bevölkerung von Schiffbrüchigen abstammt, hat die Hymne keinen Text, aber zur Melodie bewegen die Cascarier kreisend ihre Arme, um stilisiertes Brust- und Rückenschwimmen darzustellen.