Der Niedergang der Piratenpartei

Traumwelt in Orange

Vor fünf Jahren begann mit dem Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus der kometenhafte Aufstieg der Piratenpartei. Ihre Niederlage bei der Wahl am Sonntag dürfte ein Vorbote ihres endgültigen Untergangs sein.

Die Linken sind schuld, nein, die Rechten, Quatsch, die Antideutschen, Blödsinn, die Lügenpresse – bis zum Montagnachmittag verlief das öffentlich ausgetragene Nachwahlprocedere bei der Piratenpartei genau so, wie es nun schon seit vielen Misserfolgen Usus ist: An der jeweiligen Niederlage ist immer der inner- oder außerparteiliche Lieblingsfeind schuld.
Dann wurden die üblichen Scharmützel jedoch jäh von einer Todesnachricht unterbrochen: Der Berliner Piratenpolitiker Gerwald Claus-Brunner war tot aufgefunden worden. Die Polizei geht von Suizid aus. Es spricht einiges dafür, dass der 44jährige den Zeitpunkt seines Todes bewusst auf den Tag nach der Wahl gelegt hat – in einer seiner letzten Reden als Mitglied des Abgeordnetenhauses hatte er angekündigt, dass dort in der kommenden ­Legislaturperiode eine Schweigeminute für ihn abgehalten werden würde.
Für die meisten Mitglieder und ehemaligen Mitglieder der Piratenpartei war die Nachricht vom Tod des Mannes, den sie Faxe nannten, ein Schock. Selbst seine langjährigen innerparteilichen Gegner twitterten sehr persönliche Abschiedsworte. Und so hätte die Ära der Piratenpartei im Abgeordnetenhaus durchaus stilvoll zu Ende gehen können, wenn sich nicht doch noch meist im Streit oder unfreiwillig aus der Partei ausgetretene ehemalige Mitglieder gefunden hätten, die den Todesfall für erneutes Nachtreten nutzten. Den Anfang machte der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Jörg Tauss, der den von ihm »Ministalinisten« genannten, eher linken Mitgliedern der ehemaligen Fraktion vorwarf, Claus-Brunner bei besagter Rede ausgelacht zu haben. Spiegel Online hingegen berichtete, dass sich mehrere Abgeordnete Sorgen um den Piratenpolitiker gemacht hätten, auch Beratungsstellen in seinem Heimatbezirk seien informiert worden.
Dass die Berliner Piratenpartei zu diesem Zeitpunkt längst einen Nachruf auf Claus-Brunner veröffentlicht hatten, in dem sie mitteilte, der Verstorbene habe an einer »unheilbaren Krankheit« gelitten, spielte für diejenigen ehemaligen Mitglieder keine Rolle, die kurz zuvor noch das endgültige parlamentarische Aus herbeigesehnt hatten – genüsslich und öffentlich wurde die Verantwortung für Claus-Brunners Tod nicht nur den ihnen verhassten ­Piratenabgeordneten zugeschoben, sondern auch in Tweets betont, die gesamte ehemalige Fraktion habe nunmehr »Blut an den Händen«.
Immerhin blieb damit die Kontinuität gewahrt: Die Diskrepanz zwischen den Visionen, von denen ihre Funktionäre vor allem nach den Anfangser­folgen ausführlich in Talkshows erzählen durften, und der von ihnen maßgeblich mitbestimmten virtuellen Realität war eines der Hauptprobleme der Partei. Das Internet als Freiraum für alle, in dem Menschen voneinander lernen, miteinander daran arbeiten, die Welt zu einem besseren Ort zu ­machen, solidarisch für Schwächere eintreten sowie Hass durch Argumente und Bildung verschwinden lassen, war lediglich eine orangefarbene Traumwelt. Was auch die potentiellen Wähler rasch feststellten, wenn sie sich dorthin begaben, wo sich die Parteiaktivisten traditionell zu Hause fühlen: auf Twitter. Dort veranstalteten die Anhänger der unterschiedlichen Parteiflügel regelrechte Hetzjagden aufeinander und scheuten sich auch nicht, genau das zu verletzen, wofür sie in der Öffentlichkeit so gern eintraten, nämlich den Datenschutz und die Privatsphäre anderer. Von Screenshots privater Nachrichten über verletzende Memes bis hin zum gezielten Leaken vertraulicher Gespräche wurde alles aufgefahren, was heute als Trollerei und Hatespeech bekämpft wird. Außerdem war die Partei zu ihren erfolgreichen Zeiten ein riesengroßer Tratschverein, der journalistisch Tätigen beispielsweise gern ungefragt und noch vor dem ersten Kaffee des Tages in Twitter-Nachrichten mitteilte, welches Piratenmitglied mit wem Sex, keinen Sex oder Gruppensex hatte oder nie wieder Sex haben wollte.
Interessanterweise waren in vielen Redaktionen Frauen für die Berichterstattung über die Piratenpartei zuständig. Die Gründe dafür sind unklar, vielleicht hatten ihre männlichen Kollegen die Bedeutung der Newcomer-Partei unterschätzt, vielleicht galten sie auch zunächst nur als hippes Internetding, über das zu schreiben die journalistischen Politgockel keine Lust hatten. Die orangefarbene Partei war jedenfalls zunächst Frauensache.
Die von den neuen Politstars gern und plakativ beschworene Meinungsfreiheit galt in Piratenkreisen überraschend häufig nur dann als schützenswertes Gut, wenn es sich zufällig um die eigene Meinung handelte. So ähnlich verhielt es sich auch mit der Pres­sefreiheit. Missliebige, noch dazu von einer Frau verfasste Artikel und diese übelnehmende, kommentierfreudige pubertäre oder im Herzen pubertär ­gebliebene Parteifunktionäre waren keine gute Kombination für das Renommee der Partei, die es lange versäumte, sich wenigstens vom gröbsten sexistischen Bullshit ihrer Anhänger zu distanzieren. Was insgesamt aber auch nicht mehr viel ausmachte, denn ähnlich lange schaffte man es nicht, sich von Rassisten und Antisemiten zu distanzieren, sondern versuchte, die ­jeweiligen Problemfälle auszusitzen. Oder eben »die Medien« zu beschuldigen, die jeweiligen Skandale nur aufgebauscht oder erfunden zu haben.
Dass gemeinsame netzpolitische Ideale nur begrenzt als Kitt für komplett divergierende politische Überzeugungen taugen, lernte die Piraten­partei schließlich mit dem Austritt vieler sich als links verstehender Mit­glieder aus der Partei im September 2014. Die zutiefst zerstrittene Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus spaltete sich hingegen nicht, auch weil die Entlassung von Mitarbeitern vermieden werden sollte. Und so waren es die immer wieder aufflammenden Streitigkeiten, die das Bild der Piratenpartei prägten – und positive Aspekte wie Flüchtlings­arbeit und die Aufarbeitung der BER-Flughafenskandale überschatteten.
Am Ende landete die Piratenpartei in Berlin noch hinter der Partei »Die Partei« und der Tierschutzpartei. Damit ist man nur noch in den Landtagen des Saarlandes, Schleswig-Holsteins und Nordrhein-Westfalens vertreten. Doch auch dort arbeitet die Partei hart an ihrer eigenen Unwählbarkeit. Erst kürzlich wieder demonstrierte das die nordrhein-westfälische Landtagsfrak­tion. Auf Vorhaltungen, dass eine während der »Stop Ceta/TTIP«-Demonst­rationen gezeigte Krakendarstellung ein antisemitisches Stereotyp sei, hieß es auf dem Twitter-Account der Fraktion: »Demnach dürfte man auch nicht mehr Autobahn fahren.«