Zwei Freundinnen

»Ich glaube, dass Bücher, nachdem sie einmal geschrieben sind, ihre Autoren nicht mehr brauchen. Wenn die Bücher etwas zu sagen haben, werden sie früher oder später Leser finden«, schrieb die Autorin Elena Ferrante 1991 an ihren Verlag. Es handelt sich um ein Pseudonym, die wahre Identität der Bestsellerautorin ist unbekannt.
Soeben ist der erste Teil ihrer vierbändigen neapolitanischen Saga, die international gefeiert wird, auf Deutsch erschienen. Die gesamte Reihe dreht sich um die Freundinnen Elena und Lina. »Meine geniale Freundin« behandelt das Heranwachsen der beiden in einem von der Camorra regierten Armenviertel Neapels in den frühen fünfziger Jahren. Lina, die Tochter eines Schuh­machers, und Elena, die Tochter eines Pförtners, sind begabte und ehrgeizige Kinder, die früh mit materieller Not konfrontiert werden, mit sozialen Erwartungen zu kämpfen haben und schließlich an die Grenzen ihrer Freundschaft stoßen.
Vier Bände und über 2 000 Seiten umfasst Ferrantes Erzählung dieser lebenslangen Freundschaft insgesamt. Die Bücher sind Pageturner und nach dem Lesen des ersten Bandes erscheint einem das halbe Jahr lang, bis Suhrkamp den zweiten Band herausrückt.
»Meine geniale Freundin« hat eine fast altmodische Form: Die Ich-Erzählerin, Elena, erzählt strikt chronologisch die Geschichte ihrer Freundschaft mit Lina. Der unprätentiöse Aufbau passt zum Inhalt, denn es steht das Alltagsleben der Freundinnen und der anderen Bewohner des Viertels im Vordergrund. Wie kämpft ein Mädchen aus einer armen Familie dafür, eine höhere Schule besuchen zu können? Dieser Realismus, der die weibliche und die gesamt­gesellschaftliche Perspektive miteinander verbindet, ermöglicht, die alltäglichen Herausforderungen der beiden Frauen so ausführlich und emotional mitzuer­leben wie nur selten in vergleichbarer Literatur.
Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2016, 422 Seiten, 22 Euro