Hindunationalisten schränken Religionsfreiheit in Indien ein

Blasphemische Eier, heilige Kühe

In Indien ist die religiöse Toleranz nach dem Regierungsantritt der Hindunationalisten vor zwei Jahren deutlich geringer geworden, radikale Hindus werden öfter gewalttätig. Auch »westliche Freizügigkeit« im Alltag und der Kunst wird bekämpft.

Über das Computerspiel Pokémon Go haben sich Kulturpessimisten aller Couleur ausgelassen. Kaum einer von ihnen aber ging so weit wie zwei Richter im westindischen Gujarat. Sie schrieben dem Hersteller Niantic, das Spiel beleidige nicht nur »religiöse Gefühle« von Hindus, sondern gefährde deshalb auch die »nationale Sicherheit«. Der Grund sei, dass Bilder von eiförmigen Symbolen für Spielpunkte an religiösen Orten auf dem Bildschirm erscheinen. Eier aber seien »nichtvegetarische Lebensmittel«, daher sei es »blasphemisch«, solche Lebensmittel an »Orten der Anbetung« zu zeigen.
Zwei Jahre nach der Regierungsübernahme durch die hindunationalistische Partei BJP ist es in Indien mit der religiösen Toleranz nicht mehr weit her. Kürzlich weigerte sich der Staat, eine Delegation der United States Commission on International Religious Freedom einreisen zu lassen. »Wir sind zutiefst enttäuscht«, sagte der Vorsitzende der Kommission, Robert George. Selbst Staaten wie Pakistan, China, Myanmar oder Saudi-Arabien, in denen die Religionsfreiheit weitaus stärker eingeschränkt sei, hätten der Kommission Besuche erlaubt. In einem Bericht von 2015 hatte die US-Regierungsorganisation geschrieben, dass religiöse Minderheiten in Indien, vor ­allem Christen, Muslime und Sikhs, Opfer von Einschüchterung, Belästigung und Gewalt durch Hindunationalisten seien. Die BJP würde solche Gruppen »stillschweigend unterstützen« und mit einer »religiös-spaltenden Sprache ­weitere Spannungen entflammen«.
Im indischen Bundesstaat Chhattisgarh etwa sollen im August rund 200 radikale Hindus den Bau einer Kirche verhindert und versucht haben, Christen mit Drohungen zur Konversion zu zwingen, wie die katholische Nachrichtenagentur Ucanews berichtete. Durch den Bau einer Mauer hätten sie den ­Zugang zum Rohbau der Kirche versperren wollen. Sie warfen den Christen vor, illegale Missionierung zu betreiben. Der hinduistische Mob soll dabei die Unterstützung der Polizei und der Behörden gehabt haben, so ein Gemeindemitglied. »Die Lage in dieser Gegend ist so schlimm, dass man damit rechnen muss, zum Märtyrer zu werden, wenn man Christ sein will«, sagte das Gemeindemitglied Samuel Das zu Ucanews.
Die Polizei im nordindischen Bundesstaat Haryana untersucht zurzeit Reisgerichte darauf, ob sie Rindfleisch enthalten. Im Hinduismus, dem rund 80 Prozent der Einwohner Indiens angehören, werden Kühe als heilige Tiere verehrt. In vielen Bundesstaaten steht es deshalb unter Strafe, eine Kuh zu schlachten. In Haryana ist die Höchststrafe dafür zehn Jahre Haft. Der Staat hat zudem eine eigene Polizeieinheit zum Schutz von Kühen. In dem von der Maßnahme betroffenen Distrikt Mewat leben jedoch hauptsächlich Muslime, denen es ihre Religion erlaubt, Rindfleisch zu essen. Seit dem Regierungsantritt der BJP im Jahr 2014 häufen sich in Indien Zusammenstöße zwischen selbsternannten Kuhschützern und vermeintlichen Kuhgegnern. Im Bundesstaat Uttar Pradesh töteten Protestierende im Jahr 2015 einen Mann, der während Eid al-Adha, dem islamischen Opferfest, eine Kuh geschlachtet haben soll. Ende August wurden im Distrikt Merwat zwei Musliminnen von einer Gruppe hinduis­tischer Extremisten vergewaltigt, anschließend wurden der Onkel und die Tante der 20 und 14 Jahre alten Opfer zu Tode geprügelt, meldete der Nachrichtensender NDTV. Die Angreifer hätten die Opfer beschuldigt, Rindfleisch konsumiert zu haben, und ihre Tat als Rache bezeichnet. Die muslimische ­Familie habe sich an die Polizei gewandt, sei jedoch zunächst ignoriert worden. Die Täter, vier Männer um die 30 Jahre, stammten aus demselben Dorf. »Sie haben uns gefragt, ob wir Rindfleisch gegessen haben«, erklärte eine der vergewaltigten Frauen. »Wir haben das verneint, doch sie beharrten darauf und sagten, sie würden uns dafür bestrafen.« Radikale Hindugruppen haben in den vergangenen Monaten wiederholt Menschen wegen des angeb­lichen Schlachtens von Kühen oder des Verzehrs von Rindfleisch angegriffen oder gar umgebracht. Die meisten der Opfer waren Muslime.
Nicht nur Muslime und der Islam erregen Zorn, auch »westliche Freizügigkeit« ist den Hindunationalisten ein Dorn im Auge. Der indische Tourismusminister Mahesh Sharma kündigte am 28. August an, dass an Touristen am Flughafen Flugblätter mit Verhaltensregeln verteilt werden sollen. Die Liste enthalte etwa Verhaltensregeln für Frauen wie: »Wenn Sie in kleinen Städten sind, sollten Sie abends nicht alleine umherstreifen oder Röcke tragen.« Es sei »nicht Teil der indischen Kultur«, wenn Mädchen abends ausgehen, sagte Sharma bereits im September 2015, als er versprach, Indien vor dem Vordringen westlicher Kultur zu schützen. ­Wegen heftiger Kritik relativierte er allerdings seine Äußerungen und behauptete, er wolle niemandem vorschreiben, wie er sich zu kleiden habe. Vorsicht sei jedoch nicht nur nachts geboten, sondern auch beim Besuch von Tempeln und anderen wichtigen religiösen Stätten.
Die nordindische Stadt Chandigarh möchte ebenfalls gegen zu viel Freizügigkeit vorgehen: »Stätten öffentlicher Belustigung«, mögliche Brutstätten »antinationaler Aktivitäten«, sollten künftig besser kontrolliert werden, erklärten die Behörden. Die Anwesenheit »spärlich bekleideter Frauen« solle künftig ein Grund zur Schließung sein. Konservative Politiker haben wiederholt geltend gemacht, dass »westliche Kleidung« von Frauen zum moralischen Verfall der Nation beitrage. Einzig ­traditionelle indische Kleidung gilt ihnen als anständig, weil diese Beine und Oberarme züchtig bedeckt.
Auch die Kultur gerät ins Visier der Tugendwächter: Die staatliche Filmprüfungsstelle CBFC geriet in den vergangenen Monaten in die Kritik, weil sie einen Film über Drogenmissbrauch in der Provinz Punjab an 89 Stellen zensiert hatte. Seit der Machtübernahme der BJP kommen unliebsame Ausdrücke und Flüche in Filmen kaum noch durch die Zensur. Selbst Begriffe wie »lesbisch« verschwinden kommentarlos, auch aus den indischen Versionen internationaler Filme. Beim Film »Spectre« aus der James-Bond-Reihe empfand das Gremium unter anderem eine Kussszene als zu intensiv und kürzte sie ­radikal. »Es fühlt sich ein wenig an, als würden wir ins dunkle Mittelalter zurückkehren«, sagte dazu die Filmkritikerin Shubhra Gupta, die selbst bis Anfang 2015 im CBFC saß.