Berna Kurnaz über die islamistische Radikalisierung junger Menschen

»Das enge und exklusive Wertekorsett scheint attraktiv«

Berna Kurnaz ist Mitarbeiterin des Beratungsnetzwerks Kitab in Bremen. Dieses berät Eltern und Angehörige von Jugendlichen und jungen Erwachsenen sowie Lehrkräfte und Sozialarbeiter, die fürchten, dass sich die jungen Menschen islamistischen Organisationen zuwenden.

Unterscheidet sich das Radikalisierungspotential von jungen Flüchtlingen und jungen Menschen ohne Fluchthintergrund, wie jüngst vielfach in den Medien nahegelegt wurde?
Es kann durchaus qualitative Unterschiede geben, etwa wenn im Radikalisierungsprozess eine mit Erfahrungen während der Flucht oder im Krieg zusammenhängende Traumatisierung eine Rolle spielt. Doch islamistische Radikalisierung kann nicht allein durch eine Fluchterfahrung erklärt werden. Es kommt auf ein Zusammenspiel vieler verschiedener Faktoren an, wie zum Beispiel der jeweilige Charakter, die sich in Deutschland eröffnenden sozialen und beruflichen Perspektiven oder die Form der Betreuung und Begleitung durch Ehrenamtliche oder Amtsvormünder. Vor allem ist es wichtig, dass die hier Angekommenen eine demokratische »Willkommenskultur« erfahren, sie sich hier wohlfühlen, dass sie akzeptiert werden und Teilhabeerfahrungen in einer pluralen Gesellschaft machen. So kann die Attraktivität von islamistischen Gruppen und Denkmustern stark verringert werden – bei den Jugendlichen entstehen dadurch viel eher demokratische, präventive Kräfte.
Den Jugendlichen pauschal ein Gefahrenpotential zuzuschreiben, wäre eine nicht belegte und unzutreffende Generalisierung und Stigmatisierung. Zudem würde damit einem sicherheitspolitischen Diskurs in die Hände gespielt werden, dessen Forderungen eindeutig zu kurz greifen. Es ist bemerkenswert, dass in der Öffentlichkeit derzeit öfter von »tickenden Zeitbomben« zu hören ist und weniger der Ruf nach umfangreicherer psychologischer Unterstützung von jungen Flüchtlingen.
Beobachten Sie dennoch Versuche von Islamisten und Islamistinnen, gezielt um junge Flüchtlinge zu werben?
Ja, auch wir registrieren Ansprachen durch islamistische Gruppen oder Einzelpersonen. Doch es ist schwierig, hier eindeutige Tendenzen oder Anwerbestrategien zu nennen, da auch wir nur Bruchstücke mitbekommen und das Internet, neben persönlichen Kontakten, bei einer Hinwendung zum Islamismus eine nicht geringe Rolle spielt. Vor etwa eineinhalb Jahren nahmen Beratungsfälle im Kontext unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge und Familien mit Fluchterfahrungen zu. In der letzten Zeit jedoch sinkt die Zahl dieser Beratungsfälle wieder. Das liegt vermutlich daran, dass die professionell in diesem Bereich Tätigen sich gezielt fortbilden und sicherer werden im Umgang mit Jugendlichen, für die islamische Religion und Kultur zu einem wichtigen Moment der Selbstverortung gehören.
Zunehmende Religiosität muss nicht automatisch zu islamistischer Radikalisierung führen. Das Team von Kitab arbeitet mit einer akzeptierenden Grundhaltung, das heißt Religiösität an sich ist kein Problem und auch nicht der Jugendliche selbst. Wir thematisieren aber problematische Haltungen wie etwa Antisemitismus, Homophobie, Frauenfeindlichkeit oder generell die Abwertung »Ungläubiger«. Hier stellt sich uns die Frage, wie und warum bei Jugendlichen das Bedürfnis entsteht, andere Personen oder Gruppen abzuwerten. Diese Attraktivitätsmomente zu erkennen, die Haltungen in einem vertrauensvollen Kontext kritisieren zu können, das Bemühen der Jugendlichen zu verstehen, mit dieser Ablehnungshaltung einen konkreten Lösungsversuch für eigene emotionale Schieflagen zu unternehmen, und sie gleichzeitig in ihrer religiösen oder anderweitigen Selbstverortung nicht pauschal zurückzuweisen, sondern in den Diskurs zu gehen, erfordert Fingerspitzengefühl und Zeit.
Wie läuft es ab, wenn Sie etwa wegen eines sich möglicherweise radikalisierenden jungen Flüchtlings kontaktiert werden?
Diese Prozesse verlaufen nicht linear und haben keinen gewissen Ausgang – das heißt, es gibt unterschiedliche Zeitpunkte, zu denen interveniert werden kann. Wenn Menschen befürchten, dass junge Flüchtlinge mit religiös extremistischen Grundhaltungen sympathisieren, erhalten wir zum Beispiel eine Beratungsanfrage des jeweiligen Vormunds oder eines Betreuers in der Jugendhilfeeinrichtung, die meist sehr aufmerksam sind und Veränderungen wachsam sorgend beobachten. Aus Angst davor, unter Umständen als islamophob zu gelten, scheuen sich leider manche der Involvierten immer noch, uns zu kontaktieren oder ihre Sorgen auszusprechen. In solchen Fällen hilft es sicherlich, dass wir in unseren Beratungen Anonymität gewährleisten und aus einer anfänglichen Beratung nicht automatisch weitere Schritte folgen müssen, wenn wir keine sicherheitsrelevanten Zusammenhänge feststellen.
Wie in jeder Beratung gilt es auch in diesem Kontext, gezielt zu schauen, welche Mechanismen islamistisches Gedankengut attraktiv erscheinen lassen. Welches Angebot machen bestimmte salafistische Gruppen dem Betroffenen? Aus welchen Familienverhältnissen stammt der Jugendliche? Welche Erfahrungen sind bei der Flucht gemacht worden? Wie ist er in Deutschland sozial angebunden, wer sind die wichtigen Bezugspersonen, wie dauerhaft ist der Kontakt? Gibt es Beziehungsabbrüche und wenn ja, welcher Natur sind diese? Welche Auffälligkeiten wurden etwa in der Schule oder im Sportverein bisher registriert? Vor dem Hintergrund eines solchen Lageüberblicks versuchen wir schließlich, Perspektiven zu schaffen, indem wir an unterstützende Akteure und vorhandene Ressourcen des Jugendlichen anknüpfen und an attraktiven Gegenangeboten arbeiten.
Woran bemerken Sie Anzeichen einer Radikalisierung?
Erste Anhaltspunkte für eine Radikalisierung sind meist Veränderungen auf rhetorischer Ebene und in den Kommunikationsstrukturen. Wenn sich etwa ein Jugendlicher mehr und mehr weigert, mit Frauen zu sprechen, Demokratie im Allgemeinen, aber auch Parteien und Parlamente als vom Menschen erschaffene Regelwerke ablehnt, die das ewig gültige und geltende Wort und Gesetz Gottes nicht mit einbeziehen, und er noch dazu den Kontakt zu bestimmten Szenen oder einschlägig bekannten Einzelpersonen pflegt – dann ist das Risiko einer tatsächlichen ideologischen Verfestigung sicherlich hoch. Zudem ist wichtig, ob die Veränderung mit eigener Gewaltbereitschaft einhergeht, ob diese bei anderen ausgeblendet, toleriert oder gar unterstützt wird, oder ob die Person einer Strömung anhängt, die Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ziele ablehnt.
Was macht eine islamistische Radikalisierung attraktiv?
Der Salafismus gilt als eine sehr schnell wachsende, dynamische, jugendkulturelle Bewegung. Manche Jugendliche haben den Eindruck, dass selbst berechtigte Kritik an gesellschaftlichen Missständen nicht ernst genommen wird. Die Angebote salafistischer Szenen hingegen erleben sie zum Teil als »authentischer«. Unabhängig von Vergangenheit, Nationalität, Herkunft, Status, Bildungsstand oder Geschlecht können sie Teil einer elitären Bewegung sein, die die Welt zu einem »besseren« Ort machen möchte. Im Rahmen der Agitation fällt eine wichtige Funktion islamistischen Predigern zu. Sie schaffen es, in einem 45-Minuten-Vortrag oder einem dreiminütigen Youtube-Video klar und leicht verständlich zu zeigen, was sie von der »verkommenen« Gesellschaft halten, was der einzig richtige Weg ins Paradies sei, wie wichtig Werte, Glaube, Orientierung, Gemeinschaft und der Protest gegen Ungerechtigkeit seien. Dabei gibt es sehr unterschiedliche Typen von Predigern mit jeweils unterschiedlichen Botschaften – passend zu den jeweiligen emotionalen Bedürfnissen der Jugendlichen.
Der Erfolg islamistischer Denkmuster und Gruppen liegt sicherlich auch darin begründet, dass hier im Vergleich zum klassischen Rechtsextremismus das völkische Element fehlt und sich ihnen Kroaten, Deutsche, Albaner oder Türken gleichermaßen anschließen können – eine Gemeinschaft von Brüdern und Schwestern, verbunden einzig durch den »rechten« Glauben. Ein weiteres zentrales Moment ist das enge und exklusive Wertekorsett, das sich dessen Anhänger anlegen. Die Orientierung am vermeintlich unverfälschten Islam, an Mohammed und seinen engsten Gefolgsleuten, die wortwörtliche Befolgung von Regeln, das Aufgeben der Interpretation und Kontextanalyse bieten Überblick in einer als verkommen, überfordernd und zu vielfältig wahrgenommenen Welt. Dazu kommen die dualistische Unterscheidung von Gläubigen und Ungläubigen sowie Feindbilder wie Juden, die USA oder Homosexuelle.
Hängt die Attraktivität von Islamismus auch zusammen mit Formen von islamischer Angstpädagogik?
Die Vorstellung von Höllenqualen für Ungläubige, die Figur eines strafenden Gottes und die damit verbundene Angst können ein Motiv sein. Allerdings begleiten wir auch viele gefährdete Jugendliche, die sich stark am Bild eines barmherzigen Gottes orientieren und dennoch religiös begründete Haltungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit vertreten. Es reicht nicht aus, die Attraktivitätsmomente allein in der Praxis islamischer Religion auszumachen. Vielmehr muss auch nach soziologischen und psychischen Faktoren gesucht werden, die eine Hinwendung von Jugendlichen zu islamistischen Denkmustern und Gruppen begünstigen – oder dies verhindern, was ja auch möglich ist. Es ergibt deshalb Sinn, sich die Einzelfälle anzusehen und jeweils situationsadäquat anzusetzen.
Existieren in Deutschland ausreichend Maßnahmen und Projekte zur Islamismusprävention?
Viele bewährte Projekte kommen nie aus dem Projektstatus heraus und müssen sich stets neu erfinden und verkaufen, damit Förderungen nicht auslaufen. Regelförderungen würden stabilere Strukturen schaffen. Für den Bereich der Interventionsangebote gilt ähnliches. Für das Team von Kitab, das seit 2012 viele Fälle bearbeitet hat, wird die Anschubfinanzierung über den Bund zum Ende des Jahres auslaufen. Die Länder sind seit längerer Zeit aufgefordert, die Finanzierung zu übernehmen. Im Zuständigkeitsbereich meines Teams, der sich über Schleswig-Holstein, Hamburg, Niedersachsen und Bremen erstreckt, haben alle Länder reagiert. Bremen steht nun in der Pflicht, sich zu positionieren angesichts der weiterhin hohen Bedarfslage.
An welche gesellschaftlichen Akteure muss sich Islamismusprävention richten?
Wir von Kitab sind ein Instrument der Intervention. Wichtig ist es, früher anzusetzen, um präventive Kräfte zu stärken. Im Grunde geht es dabei um grundlegende Demokratiepädagogik und um die Erfahrung von sozialer und politischer Teilhabe. Darüber hinaus geht es um eine kritische Auseinandersetzung mit der Idee von exklusiven Gemeinschaften, die keine fließenden Übergänge und Schattierungen dulden. Eine solche Form der Islamismusprävention richtet sich nicht nur an potentiell gefährdete Zielgruppen, sondern de facto an die gesamte Gesellschaft.
Die Schule ist dabei der zentrale Ort für Prävention. In meiner Arbeit beobachte ich häufig, dass sich Lehrkräfte weigern oder nicht trauen, mit ihren Schülerinnen und Schülern über Religion zu sprechen, obwohl diese ein klares Bedürfnis signalisieren. Sie können sich teilweise einfach nicht vorstellen, dass Religion eine Rolle spielen kann oder was es bedeutet, als Generation nach 9/11 einen Teil der kulturellen Identität unentwegt in Frage gestellt zu sehen. Wenn kein Forum zum Austausch und zur Vermittlung transkultureller Grundgedanken geschaffen wird, dann ist die Chance sehr groß, dass sich die Jugendlichen anderen Personen zuwenden, um über dieses Thema zu diskutieren – mitunter dann weniger kritisch und mit einer alles andere als demokratischen Haltung. Im Kleinen werden leider zu viele Chancen verpasst, sich mit einer gesellschaftlichen Realität auseinanderzusetzen, die in Deutschland auch von Musliminnen und Muslimen geprägt wird.