Das Projekt #bikeygees in Berlin

Frauen, Flucht und Fahrradsport

Das Projekt #bikeygees feierte kürzlich sein einjähriges Bestehen.

»Ich denke, es hat mehr für die Emanzipation der Frau getan als irgendetwas anderes auf der Welt«, sagte die Frauenrechtlerin Susan B. Anthony 1896 der New York World: »Ich stehe da und freue mich jedes Mal, wenn ich eine Frau auf einem Fahrrad sehe. Es gibt Frauen ein Gefühl von Freiheit und Selbstvertrauen.«
Auf einem Dreirad für Erwachsene biegt eine ältere Dame mit Fahrradhelm über dem Kopftuch um die Ecke. Stolz und majestätisch sieht sie aus. Wie eine Rockerin auf ihrer Harley. Ich sehe Anne und Annette, die mich zum ersten Geburtstag des Projektes #bikeygees eingeladen haben. Sie begrüßen mich freundlich, haben aber kaum Zeit für mich. Rings herum herrscht reges Treiben.
Mehr als zehn Frauen sind an diesem Tag gekommen, die Fahrradfahren lernen möchten. Die Hälfte davon ist zum ersten Mal da, andere haben schon ein bisschen Übung. Manche Frauen und Mädchen kommen immer wieder, egal ob sie das Radeln schon gelernt haben oder als »hoffnungslose Fälle« gelten, wie Anne Seebach sie nennt. Sie lockt die angenehme und gelöste Atmosphäre und das Zusammensein mit den anderen Frauen bei Kaffee, Kuchen, Köfte und Couscous, die sie dem Aufenthalt in ihren Notunterkünften, in denen ihre Flucht endete, vorziehen. Die meisten der Frauen stammen aus Syrien oder Afghanistan, aber auch Frauen aus Spanien oder Mexiko haben sich schon dabei helfen lassen, das hierzulande meist selbstverständliche Radeln zu erlernen. Gekommen sind auch etliche ehrenamtliche Helferinnen, einige seit langem mal wieder, da Geburtstag gefeiert wird, andere zum ersten Mal.
Ein Video im Netz war es, das Annette begeisterte und veranlasste, Fahrradtraining für Frauen auch in Berlin zu machen. Anne war eine der daraufhin angesprochenen Bekannten und sofort Feuer und Flamme mitzuhelfen. Ein erstes Training fand kurz darauf in einer Notunterkunft im Wedding statt, mittlerweile wird zweimal im Monat geschoben und gut zugeredet, gefahren und auch viel gelacht.
Nun findet jeden dritten Sonntag im Monat von 14 bis 16 Uhr ein offenes Training in der Jugendverkehrsschule am Wassertorplatz statt. Interessierte Frauen sind willkommen, ob zum Helfen oder zum Erlernen der grundlegenden Fähigkeiten für die einfachste und günstigste Form unabhängiger Mobilität in einer Stadt wie Berlin.
An diesem Sonntag sind – am heutigen Geburtstag ausnahmsweise erlaubt – auch etliche Männer gekommen. Um zu gratulieren, um einen Artikel zu schreiben oder um ihre Frauen beim Training anzufeuern. Beim Schieben helfen dürfen sie nicht. Die Erfahrung zeigt, dass es hilfreich ist, den Frauen einen Raum ohne Männer zu schaffen, der es möglich macht, Vertrauen zu fassen, in dem Vorbehalte und blöde Sprüche draußen bleiben.
Fathuma, eine der ersten Absolventinnen des Unterrichts bei den #bikeygees, fordert die Frauen in einer kleinen Rede energisch auf, zu lernen. »Jede Frau kann Fahrrad fahren. Ich kann es, ihr könnt es auch! Bringt eure Schwestern und Freundinnen mit und seid Multiplikatorinnen. Wir brauchen viele starke Frauen hier!«
Ein Hauch von Wahlkampf liegt in der Luft, als Anja Kofbinger, die Spitzenkandidatin der Grünen in Neukölln, bekleidet mit einem T-Shirt, das die Aufschrift »Dyke on a bike« trägt, beim Überbringen von Glückwünschen auf das von ihr gespendete Dreirad verweist. Es trägt ein Schild mit dem Text: »Ich bin eine Spende von Anja Kofbinger.« Sie betont zwar, privat als Freundin des Projekts da zu sein, weist jedoch auch deutlich auf ihren Beruf als Politikerin hin. Viele Stimmen wird sie nicht mehr bekommen können an diesem Sonntag. Der eine Teil der Anwesenden hat wohl schon gewählt, die anderen sind weit davon entfernt, das Wahlrecht in Deutschland zu erlangen. Anja Kofbinger gewinnt am Abend erwartungsgemäß ihren Wahlkreis.
Auf die Grünen ist Anne seit den Geschehnissen um die Besetzung der Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg nicht unbedingt gut zu sprechen – das Dreirad ist natürlich trotzdem willkommen.
Die Frauen drehen mit gespendeten Fahrrädern ihre Runden. Anfangs sind meist zwei Helferinnen bemüht, zu halten und zu schieben. Nicht nur die Trainierenden sind ob der ungewohnten Anstrengungen nach den zwei Stunden erledigt, auch die Helferinnen sind fix und fertig. Viele, die zum ersten Mal kamen, konnten sich nicht vorstellen, wie anstrengend das ist. »Wenn man nicht schnell genug läuft, kommen die Frauen nicht in Fahrt und dann ist es eine wacklige Angelegenheit und nicht alle Frauen sind leicht zu halten. Alles in allem eine sportliche Herausforderung«, sagt Anne Seebach. Nach einiger Zeit sind die kleinen Teams eingespielt, nach einer halben Stunde gibt es sichtbare Fortschritte.
Neben den mit Spendengeldern erworbenen Fahrrädern und Helmen kommen an diesem Tag auch noch Roller und ein Laufrad zum Einsatz. Das Schwierigste am Fahrradfahren ist es, das Gleichgewicht zu halten, das kann auf diesen Geräten geübt werden, ohne gleichzeitig treten zu müssen.
Nesrin, eine 31jährige Arabistiklehrerin aus dem syrisch-türkischen Grenzgebiet, macht schnelle Fortschritte. Bereits nach wenigen geschobenen Runden beginnt sie stolz und noch ein wenig wacklig allein zu üben. Stolz schaut auch ihr Mann. Die beiden sind vor zwei Jahren nach Deutschland gekommen, leben in einer Notunterkunft und warten auf den Ausgang ihres Asylverfahrens. Die Deutschkurse reichten nicht, um wirklich gut Deutsch zu lernen. Kontakte seien wichtig, sagen sie. Auch deshalb seien sie hier. Warum es in Syrien nicht üblich ist, dass Frauen Fahrrad fahren? Beinahe alle Männer können es, die Frauen seien aber höchstens als Kinder Fahrrad gefahren seien, so wie auch Nesrin. Ihr Erklärungsversuch: »Alle Kulturen haben Vor- und Nachteile. Das ist ein Nachteil unserer Kultur und ein Vorteil der deutschen.« Die beiden machen den Eindruck, als seien sie froh, nicht nur den Krieg, sondern auch die kulturellen Nachteile hinter sich gelassen zu haben.
Im Gegensatz zur jungen Lehrerin mit ihren blond gefärbten Haaren aus dem kurdischen Teil Syriens tragen viele der Frauen, die hauptsächlich aus Syrien und Afghanistan stammen, unter dem hier obligatorischen Helm ein Kopftuch. Ich erinnere mich an den Film »Das Mädchen Wadjda«, der sich aus der Sicht einer elfjährigen in Saudi-Arabien, die sich ein grünes Fahrrad wünscht, mit der Rolle von Frauen und Mädchen in dem streng nach religiösen Vorschriften ausgerichteten Land und seinen patriarchalen Strukturen auseinandersetzt; ich denke aber auch an meine Mutter, die sich im Nachkriegsbayern das Fahrradfahren als Elfjährige heimlich selbst beibrachte, da ihr Vater es nicht wünschte.
Während im Iran derzeit Frauen gegen eine neue Fatwa des religiösen Führers Ali Khamenei demonstrieren, die das Radfahren für Frauen verbietet, ist das in Saudi-Arabien bisher geltende Fahrradverbot für Frauen aufgehoben worden. Nun darf großzügigerweise in Anwesenheit eines männlichen Verwandten geradelt werden, wenn auch nicht im Straßenverkehr. Die Angst vor dem Verlust der fetischisierten Jungfräulichkeit, die vermeintliche Anzüglichkeit des Anblicks einer Fahrrad fahrenden Frau und der Wunsch der Männer nach Immobilität und Herdnähe ihrer Frauen sind wohl bisher die ausschlaggebenden Argumente für die gesellschaftliche Ächtung radelnder Frauen und das von der Religionspolizei durchgesetzte Verbot.
Eine Mischung aus religiös-fundamentalistischen und patriarchalen Vorstellungen beziehungsweise Machtansprüchen macht es auch Frauen und Mädchen in Afghanistan schwer, Fahrrad zu fahren. Nachdem das Ziel einer Gruppe von jungen Frauen, sich für die Olympischen Spiele 2016 in Rio als Nationalmannschaft im Radsport zu qualifizieren, sich als zu ambitioniert herausgestellt hatte, gelang es ihnen immerhin, dank einiger Medienpräsenz für den Friedensnobelpreis 2016 nominiert zu werden. In einer Arte-Dokumentation berichten sie allerdings auch davon, auf den Straßen Kabuls mit Steinen und Gemüse beworfen zu werden, wenn sie für ihren Traum trainieren. Im kommenden Jahr soll ein durch Crowdfunding finanzierter Film mit dem Titel »Afghan Cycling« über sie erscheinen.
Ob die Syrerinnen, die ich beim Training am Sonntag treffe, vor Islamisten, dem Assad-Regime oder einfach vor dem Krieg als solchem geflohen sind, erfahre ich nicht. Ich sehe sie alle glücklich, an einem Ort, an dem das Fahrradfahren keine Männerdomäne ist. Lachend fahren sie im Kreis, helfen sich gegenseitig, reden, essen, amüsieren sich.
Bislang haben über 200 Frauen bei den #bikeygees Fahrradfahren gelernt, 20 lernen es derzeit, und etwa 30 Frauen beherrschen es inklusive Verkehrsregeln so gut, dass die #bikeygees ihnen guten Gewissens ein eigenes Fahrrad samt Helm, Schloss und einem Besitzzertifikat ausgehändigt haben. Dafür sind im Schnitt zehn bis zwölf Stunden Training nötig.
Wie auch meine Mutter trauen sich einige von ihnen allerdings später nicht, in der Großstadt alleine zu fahren.
Für die Frauen, die zu den #bikeygees kommen, ist das Fahrradfahren ein gewaltiger Schritt zur Selbständigkeit. Empowerment, das Unterstützung verdient. Noch sind die #bikeygees vor allem auf private Spenden angewiesen. Staatliche Unterstützung, die es möglich machen würde, aus den frischen Radlerinnen bezahlte Lehrerinnen für viele weitere lernwilligige Frauen zu machen, bleibt vorerst ein unerfüllter Wunsch.
Auch die niederländische Ärztin und Frauenrechtlerin Catherine van Tussenbroek lobte 1898 die Rolle des Fahrrads bei der Erlangung von Selbstvertrauen, mahnte allerdings, dass das Fahrrad die Frauenfrage nicht lösen könne; es lindere lediglich tieferliegende Probleme.