Die belgischen Gewerkschaften protestieren gegen wirtschaftspolitische Reformen

Der gescheiterte Sozialstaat

Die Wirtschaftspolitik der belgischen Regierung setzt auf Investitionen und will dafür den Arbeitsmarkt weitgehend flexibilisieren. Dagegen wehren sich die belgischen Gewerkschaften.

Das Ziel der Mitte-rechts-Regierung des liberalen Premierministers Charles ­Michel war es, die lange geforderte Wirtschaftsreform in Gang zu bringen und das Land wettbewerbsfähiger zu machen. 2014 wurden in Belgien Rentenreformen eingeleitet, mit einer schrittweisen Erhöhung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 65 auf 67 Jahre. Im Herbst 2015 wurde der sogenannte Tax-Shift eingeleitet. Der gesetzliche Anteil der ­Arbeitgeberbeiträge an der Sozialversicherung soll bis 2019 schrittweise von 33 auf 25 Prozent reduziert werden, beginnend ab 1. April 2016. Zudem wird die Einkommenssteuer verringert. Neben hohen Steuern und Sozialabgaben läßt auch die automatische Lohnindexierung, die Bindung der Löhne und Sozialleistungen an die Verbraucherpreise, die liberalen Ökonomen schaudern. 2015 wies Belgien laut dem EU-Statistikamt Eurostat nach Dänemark die europaweit zweithöchsten Arbeitskosten pro Stunde auf. Der Internationale Währungsfonds (IMF) kritisierte Anfang des Jahres in seinem Belgien-Bericht die Bemühungen zur Konsolidierung der Staatsfinanzen. Seit 2010 sei diese viel langsamer erfolgt als in anderen Euro-Staaten. Das Staatsdefizit bleibt nahe am EU-Limit von drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Doch auch in diesem Jahr wird Belgien nicht sparen. Im Gegenteil: Ein neuer milliardenschwerer »Investitionspakt« soll die Mobilität, die digitale Wirtschaft, erneuerbare Energien und die Sicherheit im Land fördern. Premierminister Michel kündigte im September an, mehr zu investieren, um das Land weiter zu modernisieren. Mit einem weiteren umfangreichen Reformpaket will die Regierung dem sozialen Schlendrian in Belgien ein Ende bereiten. Insbesondere bei Überstunden und Schichtarbeit soll der Schutz für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer künftig stark gelockert werden. Bis zu neun Überstunden pro Tag und 45 Stunden pro Woche sollen künftig möglich sein, in einigen Sektoren sogar bis zu 50 Wochenstunden zusätzlich. »Ganz offensichtlich ist es der Plan, dass die Beschäftigten mehr arbeiten sollen, anstatt neue Leute einzustellen«, sagt Jean-François Tamellini, Generalsekretär des sozialdemokratischen Gewerkschaftsverbands Fédération générale du travail de Belgique (FGTB). Auch Zeitarbeit und sogenannte Flexijobs will die Regierung künftig stärker förden. »Die Reform von Arbeitszeiten in Richtung Flexibilisierung ist eine versteckte Lohnsenkung, wenn beispielsweise Überstunden nicht mehr bezahlt werden. Die belgischen Gewerkschaften und die sozialen Bewegungen werden diesen Gesetzesvorlagen nicht zustimmen. Der Protest und die Streiks werden weitergehen«, sagt Kurt Vandaele vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut in Brüssel (ETUI) der Jungle World. Mit fast zwei Dritteln der Beschäftigten hat Belgien einen der höchsten Organisationsgrade weltweit und den höchsten unter allen Ländern mit Richtungsgewerkschaften. Die landesweite Arbeitslosenquote liegt mit zuletzt 8,4 Prozent unter dem Durchschnitt des Euro-Raums von 10,3 Prozent. Doch einer sehr hohen Arbeitslosigkeit in der wallonischen Region stehen gute Zahlen in Flandern gegenüber. Vandaele ist skeptisch: »Obwohl die Regierung behauptet, Arbeitsplätze zu schaffen, ist die Arbeitlosenquote weiter konstant. Das spricht nicht für eine Stimulierung des Arbeitsmarkts.« Anfang September hatte der US-Baumaschinenhersteller Caterpillar angekündigt, seine Fabrik in Belgien zu schließen. Damit gehen rund 2 000 Stellen verloren. Auch die niederländische Großbank ING hat angekündigt, 7 000 Stellen zu streichen. In Belgien sollen 3 500 Jobs und in den Niederlanden 2 300 wegfallen. Die Lufthansa wird die belgische Brussels Airlines übernehmen. Wie viele Stellen dabei gestrichen werden, ist bislang unklar. Tamellini ärgert die liberale Wirtschaftspolitik der Regierung: »Bisher gab es immer einen sozialen Dialog zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern. Aber seit die neue Regierung vor zwei Jahren an die Macht gekommen ist, bekommen die Arbeitgeber alles, wonach sie verlangen. Da ist kein Platz mehr für den sozialen Dialog«, sagt er der Jungle World. Der politischen Macht der Gewerkschaften war es zu verdanken, dass die Arbeitsgesetzgebung bisher stets den Schutz der Arbeiter im Auge behielt und ein maximales Streikrecht gewährleistete. Die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Unternehmen wurden auf Gewerkschaftsseite weitgehend von den beiden größeren Organisationen beherrscht. Alle drei großen Gewerkschaftsdachverbände in Belgien – die sozialdemokratischen ABVV/FGTB, die christlichen ACV/CSC und die liberalen ALCVB/CGSLB – mobilisieren gegen die Politik der Regierung. Aber auch soziale Bewegungen, die nach dem Amtsantritt von Michel entstanden sind, beteiligen sich: »Tout autre chose« und »Hart Boven Hard« sind im wallonischen und flämischen Teil des Landes vertreten. »Genau wie die Gewerkschaften sind diese sozialen Bewegungen gegen die Sparmaßnahmen. Sie sind aber in der Lage, eine positive Botschaft damit zu verbinden und neue Protestformen einzubringen. Es geht ihnen auch um Nachhaltigkeit, um Wohnen und Kultur«, sagt Vandaele. 80 000 Belgier haben Anfang Oktober in Brüssel abermals gegen die Pläne der Regierung demonstriert. Unter dem Motto »Wir bekommen nur die Krümel« hatten Gewerkschaften und soziale Bewegungen gemeinsam zu den Protesten aufgerufen.