Die Arbeitsbedingungen in der Schokoladenindustrie

Entzauberte Bohne

Belgische Schokolade ist bekannt für ihre hohe Qualität. Von den Arbeitsbedingungen im weltweiten Kakao- und Schokoladensektor kann man das allerdings nicht behaupten.

Traurig und ungesund wäre es, das Leben ohne Schokolade – zumindest für die Konsumentinnen und Konsumenten. Dunkle Schokolade soll verschiedene essentielle Amino­säuren, Vitamine und Mineralstoffe wie Magnesium, Eisen, Kalium und Phosphor enthalten. Zudem enthält sie Antioxidantien, die als krebsvorbeugend gelten, sowie Theobromin und Phenethylamin, die antidepressiv wirken können. Die Azteken in Mittelamerika sollen sogar Menschen vor ihrer Opferung für die Götter ein Getränk aus Kakao eingeflößt haben, um ihre Euphorie zu steigern.
Zur Aufrechterhaltung der guten Stimmung und Gesundheit gibt es in belgischen Städten heute ein bestens ausgebautes Netz an Schokoladengeschäften. Seit 2003 erlauben die EU-Richtlinien für Schokolade die Zugabe von bis zu fünf Prozent anderer Pflanzenfette, belgische Hersteller verwenden offiziell weiterhin 100 Prozent Kakaobutter. Solch ein qualitativ hochwertiges Produkt war es wohl auch, das der Pralinenmeister verspeist hat, der bei einer Vorführung seiner Kunst im Brüsseler Schokoladenmuseum stolz verkündet, er habe in den vergangenen Wochen mehrere Kilogramm abgenommen – dank Schokolade. Warum es zuvor zugenommen hatte, verrät er allerdings nicht. Dafür erklärt er, wie wichtig es ist, Schokolade mit allen Sinnen und sparsam zu genießen, damit der Geschmack sich langsam entfalten kann. Dadurch verspüre man dann keine Lust mehr auf andere Süßigkeiten und überhaupt sei Schokolade eben gesund, wiederholt er, wobei er sehr zufrieden wirkt und auf 32 Grad optimal temperierte Schokoladenmasse in Pralinenformen fließen lässt.
Allerdings ist es vor allem das Kakaopulver, das gesund ist. Dieses wird nach dem Fermentieren, Trocknen, Rösten und Mahlen der Kakaobohnen durch Pressung von der Kakaobutter getrennt, später werden beide Bestandteile wieder in einem besonderen Verhältnis gemischt. Dazu kommen dann je nach Endprodukt Zutaten wie Zucker, Nüsse, Gewürze und Milchpulver. Das Kakaopulver und die Kakaobutter selbst haben kaum einen Eigengeschmack.
Das aztekische Kakaogetränk Xocoatl soll eher scharf bis würzig gewesen sein und den spanischen Kolonisatoren, die damit ab 1502 in Amerika in Berührung kamen, zunächst nicht geschmeckt haben. Aber wertvoll waren die Kakaobohnen, die von den Azteken auch als Tauschmittel genutzt wurden, und weckten daher das Interesse der Spanier. Nach Europa importiert, wurde das Kakaopulver gesüßt und mit der Zeit zum Trendgetränk für die Oberschicht. In Belgien ist Kakao erstmals offiziell 1635 in Gent aufgetaucht. Doch erst im 18. Jahrhundert ging es mit den Schokoladenmanufakturen in Belgien und im sonstigen Europa richtig los. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert fiel der Preis und Schokolade in verschiedenen Formen wurde immer erschwinglicher für die Massen. 1912 erfand der Apotheker Jean Neuhaus, dessen gleichnamiger Großvater 1857 das erste Schokoladengeschäft in Brüssel eröffnet hatte, die Praline. Neuhaus gehört neben Côte d’Or, Jacques, Callebaut, Godiva und Leonidas heute noch zu den führenden belgischen Schokoladenunternehmen.
Mittlerweile kommen die meisten Kakaobohnen aber nicht mehr aus Amerika, sondern 70 Prozent der weltweiten Produktion stammen aus Anbauländern in Westafrika. Beim Konsum liegt Europa vorne, 2014 wurden dem »Kakaobarometer 2015« zufolge dort 1 812 000 Tonnen Kakaoprodukte konsumiert, etwa die Hälfte des weltweiten Verbrauchs, in ganz Afrika hingegen nur 146 000 Tonnen. Das »Kakaobarometer«, ein Bericht verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen, beleuchtet unter anderem die Arbeitsbedingungen im Kakaosektor. Süß und gesund sind diese in der Rohstoffproduktion für Schokolade leider nicht. Der arbeitsintensive Kakaoanbau wird vor allem von Kleinbäuerinnen und -bauern geleistet, ist aber kaum existenzsichernd. So verdient etwa eine Kleinbäuerin in der Côte d’Ivoire, dem wichtigsten Anbauland, im Durchschnitt nur 48 Eurocent pro Tag. Die Kinder vieler Kakaobauernfamilien suchen daher oft andere Beschäftigungsmöglichkeiten. Der drohenden Verknappung des Rohstoffangebots begegnen die meisten Abnehmer mit Programmen zur Produktivitätssteigerung, anstatt höhere Preise an die Bäuerinnen und Bauern zu zahlen. Zwar werden diese Programme häufig begleitet von Projekten zur Verbesserung der lokalen Infrastruktur und Ausbildung, die meisten Kakaobäuerinnen und -bauern leben und arbeiten aber weiterhin unter extrem schlechten Bedingungen.
Zu ihrer ökonomischen Abhängigkeit von den stark schwankenden und im Durchschnitt niedrigen Weltmarktpreisen kommen ökologische Probleme wegen des Anbaus in Monokulturen, der Pestizidnutzung, Waldrodung und Bodenerosion nach sich zieht. Auch Kinderarbeit und Menschenhandel zur Zwangsarbeit auf Kakaoplantagen sind in West­afrika verbreitet. Zwar gehen wichtige Unternehmen und Verbände immer wieder Selbstverpflichtungen zum Verzicht auf die »schlimmsten Formen« von Kinder- und Zwangsarbeit oder für nachhaltige Kakaoproduktion ein, doch immer noch leisten in Westafrika Hunderttausende Menschen, darunter viele Kinder, Zwangsarbeit auf Kakaoplantagen.
Bis 2020 wollen fast alle führenden Schokoladenhersteller nur noch nachhaltigen beziehungsweise zertifizierten Kakao verwenden, auch Fairtrade-Kakao wird beliebter. Zwar werden die Arbeitsbedingungen dadurch mancherorts verbessert, doch auch solche Programme sind nicht ausreichend. So liegt dem »Kakaobarometer 2015« zufolge der Mindestpreis für Fairtrade-Kakao seit Jahren unter dem Weltmarktpreis. Auch bei den verschiedenen Zertifikaten für nachhaltige Produkte unterscheiden sich die zugrundeliegenden Standards und die Kontrollen zu ihrer Einhaltung sind lückenhaft.
Der Kakao- und Schokoladenmarkt ist stark konzentriert, einige wenige Unternehmen teilen die verschiedenen Sparten unter sich auf. So dominieren etwa das schweizerisch-belgische Unternehmen Barry Callebaut und der Multi Cargill mit Hauptsitz in den USA zusammen etwa drei Viertel des Marktes für Industrieschoko­lade. NGOs kritisieren, dass die den Kakaosektor dominierenden Unternehmen trotz ihrer Marktmacht die Verantwortung für die Arbeitsbedingungen in den Produktionsländern und die niedrigen Preise für die Bäuerinnen und Bauern von sich weisen. Vom Verkaufspreis einer Tafel Schokolade gehen dem Institut Südwind zufolge 70 Prozent an die Kakao- und Schokoladenunternehmen, an den Zwischen- und Einzelhandel jeweils 17 Prozent; die Kakaobäuerinnen und -bauern erhalten gerade einmal sechs Prozent. Gewerkschaftliche Netzwerke wie Cocoanet.eu setzen sich für faire Preise für Kakaobauern und die Einhaltung von Arbeiterrechten ein – auch in der europäischen Schokoladenindustrie, denn dort herrschen ebenfalls oft prekäre Arbeitsverhältnisse. So kritisiert das Netzwerk unter anderem Leiharbeit, niedrige Löhne und befristete Arbeitsverhältnisse.
Als existenzsicherndes Einkommen für Kakaobäuerinnen und -bauern in der Côte d’Ivoire geht das »Kakaobarometer 2015« von drei US-Dollar (2,70 Euro) pro Tag aus. Dafür könnten sie sich eine Tafel Côte d’Or in einem belgischen Supermarkt leisten. Schmecken tut sie allemal.