Der Zustand der belgischen Atomkraftwerke ist katastrophal

Risse im Reaktor

Die Liste der Pannen und Zwischenfälle in den veralteten Atomkraftwerken Belgiens ist bedrohlich lang. Die Atomaufsicht hält eine Modernisierung der Anlagen dennoch nicht für nötig.

In der langen Geschichte der Gebrechen der Nukleartechnik hat Belgien ein neues Kapitel eröffnet. Es handelt davon, wie behutsam Atomreaktoren im Notfall gekühlt werden müssen, damit sie nicht von einem Thermoschock zum Bersten gebracht werden. Deshalb wird das permanent vorgehaltene Notkühlreservoir für die belgischen Reaktoren Tihange 2 und Doel 3 auf etwa 40 Grad vorgewärmt. Je wärmer das Kühlmittel, desto geringer der Effekt, wenn es tatsächlich einmal gebraucht werden sollte. Doch die Vorsorge ist nötig, weil die stählernen Druckbehälter dieser beiden Reaktoren Tausende von Mikrorissen aufweisen, wie eine Prüfung vor vier Jahren ergab. Deshalb hat die belgische Atomaufsicht (FANC) jene Behelfsmaßnahme verfügt, die angeblich auch in minderwertigen russischen und osteuropäischen Altreaktoren angewandt wird.
Eine Gefährdung für den Betrieb der Reaktoren kann die FANC nicht erkennen. Nach der Entdeckung der Risse durch eine Ultraschalluntersuchung im Jahr 2012 wurden Tihange 2 und Doel 3 zunächst für längere Zeit ausgeschaltet, um die Messergebnisse genauer auszuwerten, dann wieder hochgefahren, erneut ausgeschaltet und schließlich Ende 2015 freigegeben. Durch die langen Ausfallzeiten sank der nukleare Anteil an der Stromerzeugung Belgiens von vormals über 50 Prozent auf nur noch 37,5 Prozent. Dies hätte ein Anlass sein können, den schon 2003 beschlossenen und nach der Katastrophe in Fukushima wortreich bekräftigten Atomausstieg voranzutreiben. Doch die belgische Regierung tat das genaue Gegenteil. Aufgrund der Probleme mit Tihange 2 und Doel 3 verlängerte sie die Laufzeit der anderen Reaktoren auf 50 Jahre, so dass Belgien nach derzeitigem Stand bis Ende 2025 Atomkraftwerke betreiben wird. Angesichts der unübersehbaren Häufung von Pannen und Zwischenfällen in den überalterten Atomanlagen des Lands lässt sich jetzt schon sagen, dass dieser Plan nicht aufgehen wird.
Mal brennt ein Transformator durch, mal muss ein Überdruckventil geöffnet werden, mal gibt es Probleme mit einem Dampfgenerator, mal versagt eine elektronische Schaltung. Dann fällt eine Kühlmittelpumpe aus. Im August 2014 äußerte die Elektrizitätsgesellschaft Electrabel sogar einen Sabotageverdacht: 65 000 Liter Öl waren im Block 4 von Doel ausgelaufen, was zur Überhitzung der Turbine führte. Die Liste der Störfälle, vor allem deren rasche Aufeinanderfolge, macht einen bedrohlichen Eindruck. Unter allen Faktoren, die als Ursachen für die zahlreichen Defekte in Frage kommen, sticht das Alter der Anlagen hervor. Die vier Reaktoren von Doel gingen zwischen 1974 und 1985 ans Netz, die drei Reaktoren von Tihange zwischen 1975 und 1985. Die beiden Reaktoren, die Risse aufweisen, nahmen im Jahr 1982 den Betrieb auf. Für ihre Probleme wird ein heute nicht mehr existierendes niederländisches Unternehmen verantwortlich gemacht, das mangelhaften Stahl für insgesamt 22 Druckbehälter produziert und an Atomkraftwerke in aller Welt geliefert haben soll.
Für das Verständnis ist es wichtig, Ursachen und Folgen auseinanderzuhalten. Die Materialmängel waren von Anfang an vorhanden und wurden teilweise schon bei der Abnahme erkannt, aber als bedeutungslos abgetan. Die feinen Haarrisse treten mit der Alterung auf und sind ein typisches Zeichen der Materialermüdung durch die starke Strahlenbelastung, der ein Reaktorgefäß permanent ausgesetzt ist. Die Qualität des Stahls ist ein maßgeblicher Faktor für das Tempo, mit dem der Verschleiß einsetzt. Auf Dauer hält jedoch kein noch so hochwertiger Stahl einem intensiven Neutronenbeschuss stand. Diese Erkenntnis ist nicht neu, wie in belgischen Medien heutzutage verbreitet wird, sondern war den Konstrukteuren der Nuklearanlagen von Anfang an bekannt. In den ursprünglichen Konzepten waren daher Laufzeiten von etwa 30 Jahren vorgesehen. Deshalb ist die in der Politik so beliebte Laufzeitverlängerung, erst auf 40 Jahre, dann auf 50 Jahre, unverantwortlich. Denn Stahl und Beton sind in den installierten Anlagen während der Betriebszeit nicht besser, sondern schlechter geworden. Da helfen auch die Reparaturen und Modernisierungen nicht, die in den Altreaktoren im Laufe der Zeit vorgenommen wurden: Ein Druckbehälter kann nicht ausgetauscht werden.
Auch im Nachbarland Frankreich, dessen Atomwirtschaft sich Belgien als Vorbild nimmt und dessen Energieko­nzern GDF Suez die Muttergesellschaft des belgischen AKW-Betreibers Electrabel ist, wurde eine Laufzeitverlängerung von 40 auf 50 Jahre beschlossen. Die Bedingung dafür ist eine aufwendige Modernisierung, grand carénage genannt, bei der unter anderem die alten Dampfgeneratoren ersetzt werden sollen. Doch das Vorhaben begann denkbar ungünstig. Beim Austausch eines solchen 22 Meter hohen und 450 Tonnen schweren Monstrums ereignete sich am 31. März ein schwerer Unfall im normannischen AKW Paluel, bei dem zum Glück nur ein Arbeiter leicht verletzt wurde. Die Aufhängung am Wartungskran riss, der Generator stürzte in die Reaktorhalle und liegt dort nun quer über dem Reaktorbecken. Eine Katastrophe konnte vermieden werden, weil der Nuklearbrennstoff vor den Arbeiten entfernt worden war. Dennoch muss wohl von einem Totalschaden ausgegangen werden. Es ist fraglich, ob die Modernisierung so durchgeführt werden kann, wie sie beschlossen wurde, und ob sie die Altreaktoren wirklich sicherer macht, als sie vorher waren.
Die belgische Atomaufsicht hält eine Modernisierung in ähnlicher Größenordnung nicht für nötig. Die FANC arbeitet unter politischem und wirtschaftlichem Druck, dem sie nach der überwiegenden Meinung ihrer eigenen Belegschaft nicht standhalten kann.
Wie tief der Schlamassel ist, in dem Belgien mit seiner Atomwirtschaft steckt, wurde bei den Terroranschlägen vom 22. März in Brüssel schlagartig klar. In der kritischen Situation, als der Flughafen geschlossen und der öffent­liche Nahverkehr in der Hauptstadt ausgesetzt wurde, ließ die Regierung alle AKW-Beschäftigten mit Ausnahme der Kernmannschaften, die für den Betrieb der Anlagen unerläßlich sind, kurzerhand nach Hause schicken. Nach umfangreichen Sicherheitsüberprüfungen durften sie erst Tage danach die Arbeit wiederaufnehmen. Dafür gab es nach dem vermuteten, aber nicht aufgeklärten Sabotageakt von 2014 einen weiteren triftigen Grund: Ende 2015 hatte die Brüsseler Polizei im Zuge der Ermittlungen nach den Pariser Anschlägen stundenlange Videoaufnahmen vom Privathaus eines leitenden Angestellten des Atomforschungszentrums Mol sichergestellt. Offenbar observierte die IS-Zelle von Brüssel den Mann, möglicherweise um ihn zu erpressen oder zu entführen.
In den grenznahen Gebieten der Nachbarländer zeigt sich die Bevölkerung immer beunruhigter. Antiatominitiativen sammeln Unterschriften. Die Städteregion Aachen hat beim belgischen Staatsrat eine Klage gegen den weiteren Betrieb von Tihange 2 eingereicht. Die Ministerpräsidentinnen von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz haben sich an die belgische Regierung gewandt, um eine Stillegung der beiden von Rissen durchzogenen Reaktoren zu verlangen. Ähnlich äußert sich Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD). Die Sorgen der deutschen Umweltpolitik wären freilich überzeugender, wenn sie beim eigenen Atomausstieg von weniger Trägheit und Selbstzufriedenheit begleitet wären. Sind die verbliebenen acht deutschen Reaktoren mit gleicher Gründlichkeit und Präzision wie in Doel und Tihange auf Risse untersucht worden? Soweit bisher bekannt, sah man in Berlin keinen Anlass dazu.