Der Comic »Lone Wolf 2100« lässt einen Klassiker des Samurai-Manga als futuristische Actiongeschichte aufleben

Dampffaust mit Ehrgefühl

Der Comic »Lone Wolf 2100« lässt einen Klassiker des Samurai-Manga als futuristische Actiongeschichte aufleben und macht ein kleines Mädchen zur Heldin.

»Sie können nicht mal ihre eigene Vielfalt akzeptieren und ihre Bedenken drehen sich um so irrelevante Dinge wie Hautfarbe!« Ein Android sagt diesen Satz – voll der Menschenverachtung und im Bewusstsein, die Krone der Schöpfung zu sein. Die Erde im Jahr 2100 ist eine postapokalyptische Einöde, die nur von Riesenstädten unterbrochen wird. Eine Pandemie bedroht die Menschheit, außerhalb der von Robotern unterhaltenen Städte rotten sich Mutanten zusammen und bekriegen sich mit den Truppen eines gigantischen Konzerns, der die Rolle einer Regierung übernommen hat – und selbst kurz vor der heimlichen Übernahme durch die Androiden steht.
Durch diese finstere Zukunft kämpft sich der Androide Ittō, der wie der heilige Christophorus den Weltenretter auf seinen Schultern trägt. Beziehungsweise die Weltenretterin in Gestalt der sechsjährigen Daisy. Ittō beschützt das Mädchen, bringt sie an ihren Bestimmungsort und übt auf dem Weg Vergeltung. Er ist ein Kampfroboter und Rache seine Motivation, sich zum Happy End durchzuschlagen.
Der Comic ist die Neuerzählung der klassischen Mangaserie »Lone Wolf and Cub« als Science-Fiction. Als durch menschenleere Sandwüsten streifende Figur, die ein Kind auf dem Arm trägt, ist der gefallene Samurai Ittō Ogami zu einer Ikone geworden. Aufgrund einer Intrige geschasst, will der ehemalige Scharfrichter Ittō seine Ehre wieder herstellen und den Mord an seiner Frau sühnen. In Ermangelung einer vertrauensvollen Kinderbetreuung schleppt er seinen dreijährigen Sohn mit, während er eine Suio genannte Schwerttechnik anwendet und sich einen Weg durch das Japan der Edo-Zeit bahnt. Die Herrschaft der Tokugawa-Shogune zwischen 1603 und 1868 ist eine unerschöpfliche Quelle der japanischen Popkultur und ein romantischer Sehnsuchtsort. Mittelalterlich-mystische Vorstellungen werden in die schon frühneuzeitliche Epoche projiziert, als Fürsten und Schwertadel das Sagen hatten. Der Weg des Kriegers, Bushido, war der männliche Härte beweisende Gang durch die Welt.
Samurai- und Ninja-Geschichten kamen in Japan Ende der fünfziger Jahre auf. Mit »Kozure Ōkami« (»Wolf mit dem Kind«) legten Autor Kazuo Koike und Zeichner Gōseki Kojima das wohl einflussreichste Werk dieses Genres vor, das im Westen unter dem Titel »Lone Wolf and Cub« bekannt wurde. Zwischen 1970 und 1976 als Serie von Kurzgeschichten erschienen, umfasst das Werk über den umherstreifenden Samurai ungefähr 7 000 Seiten. Der US-amerikanische Comickünstler Scott McCloud erklärt, mit der Serie habe sich »ein bewegungsbetonter Stil entwickelt, der die Gewalttätigkeit der Epoche ebenso widerspiegelt wie die Schönheit der traditionellen japanischen Graphik.«
Zwei Merkmale unterscheiden »Lone Wolf and Cub« von anderen Werken des Genres. Einerseits geht die historische Genauigkeit des Comics deutlich über das übliche Maß hinaus. Jedes Bilddetail bis hin zum Ornament am Gürtel ist präzise gestaltet. Einleitende Texte schildern den historischen Hintergrund, ein Glossar erklärt das Vokabular – zumindest in den nichtjapanischen Ausgaben. Zweitens haben die Autoren Talent fürs Storytelling. In ruhiger, aber nie schleppender Erzählweise entfalten die Geschichten ihre Wirkung. Bis dann die nächste Action­sequenz aus Blut und Stahl hereinbricht. Die häufig eingesetzten Bewegungslinien, auch speedlines genannt, lassen die Kampfszenen turbulent wirken. Das Schwert blitzt auf, Speere zischen durch die Luft – im nächsten Augenblick kehren plötzlich wieder Ruhe und Gelassenheit ein.
»Lone Wolf and Cub« wurde mehrfach verfilmt. Die Serie inspirierte den Comic »Road to Perdition« (1998) und den 2002 veröffentlichten Film gleichen Namens. Für 2017 plant der Produzent Steven Paul – verantwortlich unter anderem für »Tekken« und »A Magic Christmas« –, mit den Dreharbeiten einer Neuverfilmung zu beginnen. In Deutschland wurde der Geschichte zuerst 1996/97 größere Beachtung unter Comicfans zuteil, als acht Bände unter dem Titel »Ōkami« im Carlsen-Verlag erschienen. Eine Gesamtausgabe, wieder unter dem englischen Titel, wurde später von Panini veröffentlicht.
Wie so viele Mangas gelangte der japanische Klassiker über den Atlantik nach Europa. Zu seiner Verbreitung maßgeblich beigetragen hat der bedeutende US-amerikanische Comicautor Frank Miller, der das Werk öffentlich lobte und sich von seinem filmischen Stil inspirieren ließ. Miller, vor allem bekannt durch »Sin City«, zeichnete die Cover der US-amerikanischen Ausgaben, was die Popularität der Serie ungemein erhöhte.
Vermutlich fühlte sich Miller damals durch die Gewaltdarstellung angesprochen – die jedoch eleganter ausfällt als in seinen eigenen Arbeiten. Pathos, Moral- und Ehrgefühl manifestieren sich höchst unangenehm in Millers Comic »300«. Darin gibt er frei die Schlacht bei den Thermopylen wieder, wo die Spartaner einer persischen Übermacht trotzten. Muskelgestählte Männerkörper, inszeniert als Phalanx gegen die Fremden: Aus der späteren Verfilmung entnahmen Hools ihren »Ahu!«-Schlachtruf, die Schildbemalung der Spartaner inspirierte vermutlich auch die Identitäre Bewegung zu ihrem Lambda-Logo.
»Lone Wolf 2100«, entstanden in Zusammenarbeit mit dem Serienschöpfer Kazuo Koike, verlegt die Geschichte aus der Edo-Zeit in eine Welt zwischen »Mad Max« und »Das Fünfte Element«. Geschrieben wurde sie von Mike Kennedy, der unter anderem verantwortlich zeichnet für das Mash-up »Aliens vs. Predator«, Francisco Ruiz Velasco fasste das Ganze in feine Linien und satte Farben. Die Neufassung orientiert sich lose am Original und übernimmt nur dessen kuriose Grundkonstellation des Schlächters, der ein Kind auf den Schultern trägt. Wie im Original sind auch hier ikonisch wirkende Einstellungen eines verloren in der Steppe herumstehenden Kriegers mit schnellen Kampfszenen gegeneinandergeschnitten.
Leider verzichten die Autoren auf eine besondere Eigenart des Originals. Der Samurai hält ein ganzes Waffenarsenal vor, das im hölzernen Kinderwagen verstaut ist und zu unfreiwilliger Komik neigt. Dafür besticht die recht simpel gestrickte Geschichte vor allem optisch. Zwischen kräftig strahlenden Farben ist der dünne Strich bis in die letzte Falte und federnde Haarsträhne ­geführt. Darin knüpft »Lone Wolf 2100« an die Vorlage an.
Mit der pathetischen Botschaft und Ehrvorstellung hält es der Band allerdings weniger genau. Zwar trieft Blut von vielen der knapp 300 Seiten. Aber allein schon die futuristische Ausgestaltung – neben einem Schwert besorgen unter anderem Lichtkanonen und Energieblitze das Tötungsgeschäft – lässt einigen archaischen Grimm verblassen. Außerdem ist der Protagonist kein Mensch, sondern ein Androide. Das bricht das Bild vom edlen Recken: Ittō folgt programmierter Logik. Eine Identifikationsfigur – »Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss … «  – gibt er nicht ab und die schnörkellose Science-Fiction-Story unterhält, statt eine vermeintlich große Vergangenheit zu beschwören.
Aufgrund zahlreicher nicht weiter erklärter Bezeichnungen liest sich der Anfang des Comics etwas verwirrend. Die Androiden nennen sich Emkons, die Menschmutationen kommen als sogenannte Thralls daher. Dampffaust nennt sich die unternehmenseigene Militärmaschine, Kriegsspore die genverändernde Seuche. Übersetzer Frank Neubauer lässt jemanden garen »wie eine Gans im Römertopf« – kann man machen in diesem Genre.
Ohnehin liege der Männererzählung eine gewisse Ironie zugrunde: Alle Hoffnung geht von einem sechsjährigen Mädchen aus. Daisys Blut enthält ein Mittel gegen die Kriegsspore, das zugleich die Roboter tötet. Und doch kommt der Heldin keine weitere Betätigung zu, als das Kindchenschema zu erfüllen und niedlich dreinzuschauen. Hängt sie eher unscheinbar auf dem Rücken des Kriegers, wandelt sich ihr Gesichtsausdruck, während er schnitzt, ficht und tötet. Am Ende verdreht die Neufassung die Originalerzählung: Während in einer Schlüsselszene des Originals der Sohn des Samurais statt zum Ball zum Schwert greift und damit alle weiteren Geschicke bestimmt, schenkt Daisy dem besiegten Widersacher ihren Ball. Eine wahrhaftig große Geste eines Kindes.
Mike Kennedy, Francisco Ruiz Velasco: Lone Wolf 2100. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Neubauer. Cross Cult, Ludwigsburg 2016, 304 Seiten, 39,95 Euro