Virtuelle Realität wird auch im Journalismus zunehmend zur Wirklichkeit

Die Zukunft der Fakten

Bei virtueller Realität denken die meisten Menschen an eine fiktionale Welt, in der Computernerds ihrer Umgebung entfliehen können. Doch mittlerweile sind Cardboards als Massenware erhältlich. Mit ihnen wird virtuelle Realität zur Wirklichkeit, auch für den Journalismus.

Die kastenartige Brille versperrt den Blick auf die reale Umgebung um mich herum. Das sogenannte Cardboard ist ein rechteckiger Pappkarton mit zwei Brillengläsern, vor denen ein Smartphone eingespannt ist. In 3D sehen meine Augen nun das, was sich auf dem Display des Minicomputers abspielt. Durch die Gläser könnte ich einen ­virtuellen Mount Everest sehen, den ich in einem Schneesturm besteigen müsste. Der steile Aufgang würde in der klirrenden Kälte vor mir liegen. Oder es wäre meine Mission, die Menschheit vor einer atomaren Katas­trophe zu retten, mit einem virtuellen Atomkern in der Hand müsste ich einen Abgrund überwinden. In der Welt des Gaming ist die virtuelle Realität (VR) ein naheliegendes Szenario. Den Joystick gegen Headset oder Cardboard einzutauschen, um die Angst vor dem Schritt über den Abgrund real werden zu lassen, ist eigentlich die logische Fortsetzung von Kon­solen- und PC-Spielen. Doch stattdessen baut sich vor meinen Augen ein dreidimensionales Balkendiagramm in einem ansonsten leeren Raum auf: AfD 14,2 Prozent, SPD 21,6 Prozent. Ich sehe die Ergebnisse der jüngsten Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus, in gewisser Hinsicht tut sich hier auch ein Abgrund auf. Mir wird schwindelig, vielleicht nicht nur von der verpixelten Graphik. Ich drehe mich um und stehe vor einem gelben Balken, der eindeutig zu hoch ist, um das Wahlergebnis der FDP zu symbolisieren. Wenn ich ihn mit meinem Blick fokussiere, wächst der Balken und wird grün. Gucke ich kurz weg, schrumpft er und wird wieder gelb. Die Ananasbranche musste in den vergangenen Jahren ­offenbar herbe Verluste einstecken. Im Vergleich zu 2012 ist der Konsum deutlich gesunken. Virtuelle Realität und echte Information: Passt das zusammen? Das Berliner Start-up-Unternehmen Vragments will mit dem Programm »Fader« ein Tool entwickeln, mit dem Journalisten virtuelle Realität als Feature in ihre Arbeit einbauen können. »Fader soll Journalisten die Möglichkeit geben, selbst Virtual-Reality-Stories zu erstellen, ohne Aufträge an ein externes Studio vergeben zu müssen. Wir wollen die Anforderungen an technische Kenntnisse und spezielles Know-how minimal halten«, sagt Stephan Gensch von Vragments. Das Unternehmen ­liefert die Bausteine für die virtuelle Umgebung, die Journalisten puzzeln sie zusammen. So weit die Idee, deren Verwirklichung noch in der Entwicklung steckt. Ein Workshop von Vragments Ende September bot einen Praxiseinstieg für Journalisten, Programmierer und andere Interessierte. Innerhalb von zwei Tagen entstanden virtu­elle Miniprojekte, unter anderem das dreidimensionale Wahlergebnis, ein bisher ungewöhnliches Thema in virtuellen Räumen. Derzeit florieren auf journalistischen Plattformen vor allem Videos mit 360-Grad-Perspektive als neues Format. Die Süddeutsche Zeitung nutzte die dreidimensionalen Videos bereits für einige Reportagen, sie veröffentlichte anlässlich der Olympischen Spiele zum Beispiel einen Rundgang in den Favelas von Rio de Janeiro. Einem Müllsammler auf den Fersen läuft man dabei durch die buntbemalten Gassen, kann den Blick in den stahlblauen Himmel schweifen lassen oder ihn auf den Mann richten, der den Dreck in den Straßen wegschafft. Die New York Times schickte ihren Abonnenten schon im November 2015 eine Cardboard-Brille zusammen mit der 360-Grad-­Videoproduktion »The Displaced«, die die Geschichten dreier vertriebener Kinder aus der Ukraine, dem Südsudan und dem Libanon erzählt. Der Zuschauer kann sich die Trümmer anschauen, in denen die Kinder stehen, oder die Skyline der Stadt dahinter betrachten. Es ist nicht mehr allein die Regie, die den Bildausschnitt bestimmt und entscheidet, was für die Meinungsbildung relevant ist. Die Storyline wird auch von den Ausschnitten ­geprägt, die der Zuschauer auswählt. Die Eindrücke wirken dadurch unmittel­barer und suggerieren ein selbsterlebtes Ereignis in einer anderen, fernen Realität. Vollkommene Empathie im eigenen Wohnzimmer, das ist weitergedachtes Fernsehen. Für manche Insider hat das mit ­virtueller Realität nichts zu tun. Die 360-Grad-­Videos sind echte Aufnahmen und keine computergenerierten Graphiken. Der Zuschauer kann zwar ­seinen Blickwinkel verändern, nicht aber mit den Darstellern interagieren oder sich selbst in dem Video bewegen. »360-Grad-Videos sind für mich keine Virtual Reality. In echten VR-Welten kann ich mich bewegen und mit der Umgebung interagieren. In 360-Grad-Videos kann ich mich lediglich umschauen.« sagt Jan-Keno Janssen vom Computermagazin c’t. Auf dem Workshop ging es auch darum, welche Möglichkeiten VR neben solchen 360-Grad-Videos bietet, zum Beispiel zur Visualisierung von Fakten wie Wahlergebnissen in einer virtuellen Umgebung. Die Statistik wurde mit einer Excel-ähnlichen Tabelle erstellt, die wie eine Landkarte für die angeordneten Objekte im Raum fungiert. Trägt man oben links in der Tabelle ­einen Wert ein, erscheint nordwestlich in dem virtuellen Szenario ein Balken in der entsprechenden Höhe. Das schaffen auch technisch Unbegabte. Die virtuelle Erfahrung beginnt durch das Aufsetzen der Cardboards, die inzwischen für wenige Euro käuflich zu erwerben und dadurch zur Massenware geworden sind. Durch head tracking verfolgt ein Programm die Kopfbewegungen des Benutzers und überträgt sie in die virtuelle Realität. Ist die Software gut, stellt sich sogenannte presence ein und das Gehirn glaubt tatsächlich, woanders zu sein. Man sieht den anderen Ort nicht nur, sondern denkt, man wäre dort. Immer­sive experience sagt man dazu: eine alle Sinne umfassende Erfahrung, das komplette Eintauchen in die virtuelle Welt. Die Papp-Cardboards verhindern das Eintauchen allerdings schon dadurch, dass man den Karton mit beiden Händen am Kopf festhalten muss. Die dreidimensionale Statistik kann man zwar angucken, mehr aber auch nicht, irgendwie öde. Zumal die verpixelte Graphik Kopfschmerzen verspricht. Das virtuelle Erlebnis reduziert sich darauf, inmitten eines Raums voller Menschen einen Pappkarton vor das Gesicht zu halten, um ein dreidimensionales Balkendiagramm in einer tristen Leere anzugucken. Eine Alternative zu schick animierten Statistiken im Internet ist das noch nicht. Was aber, wenn der Balken die Gestalt des Roten Rathauses hätte und Michael Müller herauswinken würde? Wenn man ihn fragen könnte, was die Kernpositionen seines Wahlprogramms sind, im Keller des Rathauses nach den Wahlergebnissen von 2011 kramen oder die AfD fragen könnte, welches Thema sie als erstes auf die Tagesordnung im Abgeordnetenhaus bringen will? Es sind virtuelle Szenarien wie diese, die das Potential von VR im Journalismus aufzeigen. Schnöde Fakten oder komplizierte Themen könnten in virtuellen, interaktiven Umgebungen greifbarer werden. Wer während des medialen Konsums selbst agieren muss, kann Inhalte leichter erfassen als in der passiven Rolle des Lesers oder Zuschauers. Derzeit braucht es noch viel Phantasie, um sich solche Anwendungen vorzustellen. Ist VR also doch noch Zukunftsmusik? Auf der Keynote der Konferenz Oculus Connect 3 Anfang Oktober hat Mark Zuckerberg seine Vision von Facebook vorgestellt: Facebook-Nutzer nehmen die Gestalt von Avataren an und treffen in virtuellen Räumen auf Freunde, mit denen sie kommunizieren, spielen und auch lernen können. Für die meisten User dürfte das schwer vorstellbar sein, denn mit der heutigen Nutzung von Facebook hat das wenig zu tun. Es würde nicht nur eine Revolution der Kommunikation auf der Plattform bedeuten, sondern eine des individuellen und gesellschaftlichen Verhaltens im Internet insgesamt. Stephan Gensch ist sich jedenfalls sicher: »Das wird bald Alltag sein.« Das internationales Netzwerk von Neurowissenschaftlern, Programmierern und Künstlern »Be Another Lab« forscht seit einigen Jahren zu den Auswirkungen von virtueller Realität auf das Gehirn. Bereits im Jahr 2014 stellte die Gruppe ihre »Machine to Be Another« vor: Bestehend aus zwei Oculus-Rift-Brillen, zwei Kameras und vielen Kabeln erzeugt die Maschine bei zwei Menschen, die sich diese Apparatur aufsetzen, die Illusion, sie hätten den Körper getauscht. Das damit durchgeführte Experiment »Gender Swap« erhielt viel Aufmerksamkeit im Netz. Dabei »tauschen« ein Mann und eine Frau die Körper, tasten den eigenen ab, sehen dabei aber den ­anderen.