Uli Krug kondoliert Bob Dylan zum Erhalt des Literaturnobelpreises

Diogenes und die senilen Hippies

Warum Bob Dylan den Literaturnobelpreis nicht verdient hat.
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Die Groteske will einfach nicht enden: Philip Roth ist auch in diesem Jahr übergangen worden und wartet weiter auf den Literaturnobelpreis. Dass er selber noch auf die Verleihung hofft, darf man bezweifeln, weil Roth kaum entgangen sein dürfte, dass eine solche Ehrung mittlerweile einen mehr als zweifelhaften Charakter hätte. Denn die Auswahl der Preisempfänger ist besonders in den zurückliegenden Jahren im schlimmsten Sinne des Wortes mit der Zeit gegangen. Und die wird immer knapper in der vollvernetzten Welt ununterbrochener aktiver Kommunikation, zu knapp wohl für die kontemplative Rezeption dicker Wälzer ohne unmittelbaren politischen Nutzwert.
Roth kann sich also mit dem Gedanken trösten, dass seine Romane einfach zu lang und zu kompliziert sind, als dass an sie das verkaufsfördernde Aufkleberchen »Literaturnobelpreisträger« verschwendet werden sollte. Das nämlich scheint Vertretern der literarischen Kurzform vorbehalten: Der Lyriker Tomas Tanstömer (Schweden, Preisträger 2011) bringt es in seinem Œuvre gerade einmal auf 500 Seiten, verteilt auf zwölf schmale Gedichtbändchen; Alice Munro (Kanada, 2013) hat sich in ihrem Werk ausschließlich auf Kurzgeschichten verlegt, Swetlana Alexijewitsch (Weißrußland, 2015) schließlich hat sich vom Fiktionalen überhaupt verabschiedet und verwebt Interviews und Zeitzeugendokumente in Magazinmanier zu, nun ja, einer Art Dokuprosa.
In dieser Hinsicht ist die Preisverleihung an einen, der noch nicht einmal die Berufsbezeichnung Schriftsteller führt, den Musiker Bob Dylan, eine konsequente Zuspitzung der Verleihungspolitik. Dylan hat seinem Publikum bislang nicht einen Roman vorgelegt, sein unmittelbar literarisches Schaffen beschränkt sich auf die Autobiographie »Chronicles, Volume One« (2004). Was die Schweden für Dylan womöglich noch mehr eingenommen hat: Dylans Lyrik muss man ja nicht lesen, man kann und sollte sie hören. In gewissem Sinne ließe sich also sagen, dass das Nobelpreiskommitee nunmehr auf den Trend zum Hörbuch setzt und sich damit der universalen Aufmerksamkeitsverknappung unterwirft.
Der Vergleich Dylans mit Homer, den das Komitee in seiner Preisbegründung bemüht, dass also gesungene Dichtung wie die Dylans sozusagen an die archaischen Quellen der Literatur zurückführe, als die griechischen Rhapsoden Verserzählungen gern mit Lyrabegleitung vortrugen, taugt jedenfalls wenig. Zuerst wäre dagegen einzuwenden, dass in der Antike sowohl Papier als auch Literalität ebenso Mangelware darstellten, wie die Vervielfältigung mühselig und zeitraubend war, die rhapsodische Vortragsform also von einem mittlerweile behobenen Mangel diktiert wurde. Mehr noch: Erst in der Schriftform hat sich das Wort vom Gesang emanzipiert, ist es mehr als nur sein Klang und entfaltet damit erst sein spezifisches geistiges Potential; anders gesagt: Literatur entsteht da, wo das Wort sich von seinem materiell-sinnlichen, gesprochenen Ausdruck zwar nicht gänzlich trennt, aber immerhin so weit entfernt, dass es seine eigene Zeit und Dauer bekommt.
Die Gerüchte, dass Bob Dylan den Nobelpreis bekommen könnte, kursierten schon einige Jahre, aber noch 2014 hatte beispielsweise Andreas Platthaus eingedenk der Differenz zwischen Musik und Literatur eine Verleihung für ausgeschlossen gehalten. In der FAZ schrieb er damals: »Egal, für wie gut man seine Liedtexte, für die er ja den Preis bekäme, auch hält – das implizite Zugeständnis, dass man keinen Schriftsteller gefunden hätte, den man für besser hielte als Dylan, wäre doch wohl eine von der Jury selbst als Bankrotterklärung der Literatur empfundene Entscheidung.« Eine Bankrotterklärung, die allerdings wohl eher auf die Jury und das gesellschaftliche Milieu des in selbstbewusste Halbbildung abgestiegenen ehemaligen Bürgertums zurückfällt, das die Juroren unbedingt bedienen möchten, als auf die Literatur als eigenständige Kunstform.
Ebenso zweifelhaft wie die Entscheidung des Komitees sind diejenigen, die sich vor Freude darüber kaum einkriegen können, darunter natürlich die Führung der deutschen Sozialdemokratie. Der ehemalige Popbeauftrage der Bundesregierung, Sigmar Gabriel, twitterte begeistert, er habe als Konfirmand bei einer ­Jugendfreizeit auf Ameland »Blowin’ in the Wind« gehört und beherrsche den Text noch heute. Ähnlich enthusiasmiert äußerten sich seine Genossen Schulz und Steinmeier; auch der singende Lehrer Heinz Rudolf Kunze, seines Zeichens ein eifriger Verteidiger deutschen Liedguts, schloss sich den Gratulanten der ersten Stunde an.
All das hat Bob Dylan nicht verdient, weder den Preis noch die Gratulanten, was absolut für ihn und gegen sie spricht. Denn das Komitee wie die erfreuten Sozialdemokraten haben einen Dylan geehrt beziehungsweise bejubelt, den es nur in ihrer Vorstellung gibt, eine Vorstellung, die allerspätestens seit 1965 absolut keinerlei Entsprechung mehr in der Realität hat, als Dylan sein erstes großes Meisterwerk, das Album »Bringing It All Back Home«, veröffentlichte, seine Liaison mit der notorischen Heulboje Joan Baez aufkündigte und beim Newport Folk Festival die Puristen mit E-Gitarre und Glam-Look vor den Kopf stieß. Es ist jenes hartnäckige Missverständnis, das Dylan als klampfenden Protestsänger ansieht, als eine Art Donovan oder Barry McGuire für Abiturienten, ein Missverständnis, das ausgerechnet Dylan, den bissigsten Spötter über die lebensreformerische Hippieseligkeit, genau darauf festnagelt. Ein Missverständnis, das den britischen Schriftsteller Irvine Welsh, der Autor von »Trainspotting«, zur wohl treffendsten Charakterisierung der Stockholmer Entscheidung animierte: »Ich bin ein Dylan-Fan, aber dies ist ein schlecht durchdachter Nostalgiepreis, herausgerissen aus den ranzigen Prostatas seniler, sabbernder Hippies.« Eine Nostalgie, die lediglich den beschränkten Horizont derer beschreibt, die noch heute auf Dylan-Konzerten »Blowin’ in the Wind« verlangen und dafür vom Meister entweder Verachtung erfahren oder ihren Wunsch in einer Weise erfüllt bekommen, die eher einer hochverdienten akustischen Bestrafung gleichkommt, den Song bis zur Unkenntlichkeit zerrupft und den Text absolut unverständlich dahingenuschelt, eine maliziöse Parodie auf Gabriels Lagerfeuerseligkeit.
Deshalb geht auch das zweite Argument der schwedischen Preisbegründung, dass nämlich Dylan das amerikanische Songwriting poetisch bereichert habe, völlig an der Sache vorbei. Denn er hat es nicht bereichert, sondern es quasi vor seinem Untergang bewahrt, indem er es zerstörte, um es zugleich in phantastisch-utopischen Gefilden neu auferstehen zu lassen. Nur so konnten die Musizierweisen und Sprachbilder der amerikanischen Folktradition weiterleben, obwohl deren Urheber und Verbreiter, die schwarzen wie weißen Wanderarbeiter, die Gelegenheitsmusiker in den üblen Kaschemmen von Kansas City, die Hobos und Wobblie-Gewerkschafter bereits Geschichte waren, als der junge Robert Allen Zimmerman, Nachfahre ukrainisch-jüdischer Immigranten, ihre Songs 1961 im New Yorker Boheme-Viertel Greenwich Village kennenlernte und sich fürderhin Bob Dylan nannte.
Dessen Kunst bestand darin, sich selbst zum sphinxhaften Medium vergehender historischer Hoffnungen und zugleich auch zum Medium der scheiternden Versprechungen der eben angebrochenen Pop-Moderne zu machen. Dylan transformierte sich von einem Folksänger in eine Kunstfigur, die jene beiden Extreme, die wie kaum zwei andere für eine Überschreitung des Horizonts der bürgerlichen Epoche standen, in sich durch Verfremdung aufbewahrt: die amerikanischen working poor und die europäischen Dandies. Dylan verschmolz Woody Guthrie, Oscar Wilde, Dylan Thomas und Bertolt Brecht zu einem Wesen, dem er sozusagen seinen physischen Leib und sein Leben überließ. So sehr, dass es seit 1965 keinen Robert Allen Zimmerman mehr gibt, sondern nur die von ihm inkorporierten Mythen, die als verkapselte Erinnerungen an nie eingelöste historische Versprechen ebenso erfunden wie wahrhaftig sind. Dieser Dylan wurde auf dem Cover von »Bringing It All Back Home« geboren: Ein dandyhaft-blasierter Dylan krault in schloss­artigem Ambiente eine Perserkatze und hat um sich vier sorgfältig gewählte Schallplatten drapiert, die die Utopie des schönen Lebens mit der Realität des Kampfes gegen die Armut verknüpfen: Eric Von Schmidts »The Folk Blues of Eric Von Schmidt«, eine Referenz an den Mann, der Dylan mit dem Country Blues bekannt gemacht hatte, Lotte Lenyas Album »Sings Berlin Theatre Songs by Kurt Weill«, Robert Johnsons »King of the Delta Blues Singers« – ohne Johnson hätte es die Rockmusik, wie man sie kennt, nicht gegeben – und schließlich die LP »Keep on Pushing« der Soul-Kapelle The Impressions, die 1965 für zeitgenössische Rebellion einsteht.
Mit der ihm eigenen Radikalität überließ sich Dylan dem gesellschaftlichen Schicksal der von ihm herbeigerufenen Kräfte und registrierte bald schon sehr genau, dass die Quellen, aus denen sich seine Inszenierung speiste, versiegten. Er begriff, dass die Gesten beliebig geworden waren in einem Prozess, der typisch ist für die kapitale Vermarktung populärer Musik. Um florieren zu können, benötigt die Musikindustrie das Exotische, das sie jedoch durch den Gebrauch vernichtet, wodurch die Popmusik in einen Regress gerät, in dem sie sich selbst aufzehrt. Dylan reflektierte diesen Regress mit der Flucht in eine immer entlegenere Vergangenheit, einer Flucht in den amerikanischen Westen, in die Country-Musik, schließlich in die Pose eines typischen Predigers aus dem Mittelwesten, um in den neunziger Jahren zu dem zu werden, der er noch heute ist: ein moderner Diogenes voll hellsichtiger Müdigkeit, der von der Welt nichts mehr will, als dass sie ihm aus der Sonne gehe und ja keinen Blick in die Tonne werfe, in der er lebt.
Wahrscheinlich ist das die einzige Pose, in der man heute populär bleiben kann, ohne miteinstimmen zu müssen in das gleichbleibende Getöse der Petitionen und Erklärungen gegen Krieg und für Umwelt, in denen Schauspieler und Musiker das in vorauseilendem Gehorsam von sich geben, was der angepeilte Käuferkreis, das juste milieu derer, die zu keinem Innehalten und Nachdenken mehr fähig sind, von ihnen erwartet – ein narzisstisches Spiegelspiel zwischen engagiertem Künstler und gekünsteltem Engagement. Deshalb kann der Literaturnobelpreis, trotz der dummen Gründe, aus denen er Dylan verliehen wurde, auch einem nichts anhaben, der solche Vereinnahmungsversuche bereits vor 42 Jahren mit den Worten kommentierte: »It’s never been my duty to remake the world at large/Nor is it my intention to sound a battle charge.« Und so hüllt Dylan sich natürlich jetzt in Schweigen. Bei einem Konzert in Las Vegas verlor der mittlerweile 75jährige am vergangenen Donnerstagabend kein einziges Wort über den Preis und ließ sich auch nicht telephonisch um den Zauselbart gehen. Akademievertreter Odd Zschiedrich scheiterte jedenfalls zu seinem Missvergnügen bis Freitagmittag – 24 Stunden nach der Verkündung – an Dylans Agenten, der sich wei­gerte, ihn weiterzuverbinden. Das hat die Größe und den Stil, die man von einem wie Dylan erwarten kann. Chapeau!