Francesca de Masi im Gespräch über Projekte, die Opfer von frauenfeindlicher Gewalt in Italien unterstützen

»Ein Sieg der Bürokratie über die Bedürfnisse der Frauen«

Francesca De Masi von der Kooperative Be Free über die Zukunft von Projekten, die Opfer frauenfeindliche Gewalt in Italien unterstützen.

Können Sie die Aktivitäten von Be Free genauer beschreiben?
Be Free ist eine von Frauen gegründete Kooperative, die seit 2007 im Auftrag von öffentlichen Institutionen Frauen begleitet, die Gewalt und Diskriminierung erfahren haben oder Opfer von Menschenhandel geworden sind. Wir sind zurzeit für verschiedene Einrichtungen im Stadtgebiet von Rom zuständig. Zu den wichtigsten zählt die Anlaufstelle in der Notaufnahme des Krankenhauses San Camillo Forlini. Frauen, die sich infolge der erfahrenen Aggressionen in ärztliche Behandlung begeben, kommen dort mit geschultem Personal in Kontakt, mit Mitarbeiterinnen, die sich ihre Geschichten anhören und weitere Schritte einleiten können, wenn Frauen den Weg aus ihrer Situation suchen. Eine weitere wichtige Einrichtung war SOS Donna, eine Beratungsstelle, bei der sich Frauen psychosoziale und juristische Unterstützung holen konnten.
Die Einrichtung wurde im Juni von der Stadt geschlossen. Wie ist es dazu gekommen?
Es gab bürokratische Probleme. Infolge des Korruptionsskandals »Mafia Capitale« (Jungle World 47/15), sollte die nationale Antikorruptionsbehörde neue Richtlinien für die Vergabe öffentlicher Aufträge erarbeiten. Da diese Richtlinien noch nicht vorlagen, als im Sommer unsere Verträge mit der Stadt ausliefen, hat die damalige Verwaltung das neue Ausschreibeverfahren blockiert und die betroffenen Einrichtungen geschlossen. Es ist ein Sieg der Bürokratie über die Bedürfnisse der Frauen, die sich an Einrichtungen wenden, die Schutz vor Gewalt bieten.
Seit einigen Wochen gibt es eine neue, vom Movimento 5 Stelle geführte Stadtverwaltung. Hatten Sie Gelegenheit, mit der Bürgermeisterin Virginia Raggi zu sprechen?
Wir haben wenige Tage nach ihrem Amtsantritt vor dem Rathaus gegen die Schließung von SOS Donna protestiert, sie hat daraufhin eine Delegation von Frauen empfangen. Sie meinte, es sei zu spät, die von den Vorgängern angeordnete Schließung zu verhindern, sie werde sich aber in Zukunft für die Finanzierung solcher Einrichtungen einsetzen.
Was ist aus dem von der Regierung schon 2013 aufgelegten Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen geworden?
Finanzielle Mittel, die von der Regierung längst bewilligt sind, konnten bisher nicht ausgegeben werden, weil ihre Verteilung zwischen den Regionen, Provinzen und Städten nicht geklärt ist. Das zuständige Ressort der Gleichstellungsbeauftragten wurde von Ministerpräsident Matteo Renzi viel zu lange unbesetzt gelassen. Weil die Finanzierung fehlt, wurden in Neapel und Palermo Einrichtungen geschlossen, auch in Sardinien drohen Schließungen, in Pisa musste das Hilfsangebot reduziert werden.
Die Schließung von SOS Donna in Rom erfolgte wenige Wochen nach der Ermordung von Sara di Pietrantonio. Die 22jährige war von ihrem Ex-Freund mit Alkohol übergossen und angezündet worden (Jungle World 23/2016). Einige feministische Gruppen haben die Berichterstattung über den brutalen Mord kritisiert.
Die Zeitungen tendieren dazu, aus der Ermordung von Frauen einen Verkaufsschlager zu machen. Sie fokussieren sich auf den jeweiligen Mann, der mutmaßlich mit der Trennung nicht zurechtkam, der das Gefühl hatte, alles verloren zu haben, und so weiter. Die Erzählungen über Gewalt gegen Frauen laufen darauf hinaus, dass der Mann die Frau »zu sehr geliebt« hat oder einen »Aussetzer« hatte. Aber die Gewalt gegen Frauen ist zu verbreitet, um mit einer psychopathologischen Abweichung des einzelnen Individuums erklärt zu werden. Sie verweist auf ein kulturelles Problem, man muss das Geschlechterverhältnis diskutieren. In anderen Fällen heben die Medien die fremde Nationalität des Täters hervor. Das führt nicht nur zu einer verzerrten, xenophoben und total irreführenden Darstellung des realen Problems, es führt auch dazu, dass Gesetze zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen im Rahmen von Verordnungen zur öffentlichen Sicherheit verabschiedet werden. Aber Gewalt gegen Frauen geschieht in 90 Prozent der Fälle im privaten Raum.
Laut Statistik sind im ersten Halbjahr 2016 über 70 Frauen von ihren Partnern, Exfreunden oder Söhnen ermordet worden. Diese Gewalt wird allgemein als »Feminizid« diskutiert. Die Gewalt, die Frauen durch Menschenhandel erfahren, wird dagegen kaum zur Kenntnis genommen. Wie erklären Sie sich diese Unterscheidung in der öffentlichen Wahrnehmung?
Historisch gesehen haben sich die Einrichtungen ausschließlich um Fälle häuslicher Gewalt gekümmert, Be Free gehört zu den wenigen Vereinigungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Gewalt gegen Frauen und den Frauenhandel, die sexuelle Ausbeutung von Frauen, gemeinsam zu bekämpfen.
Wie sieht die Arbeit gegen den Frauenhandel konkret aus?
Wir führen eine Beratungsstelle im römischen Identifikations- und Abschiebegefängnis Ponte Galleria. An diesen furchtbaren Ort, von dem wir uns wünschen, es gäbe ihn gar nicht, werden Frauen und Männer gebracht, die keinen Aufenthaltstitel haben und abgeschoben werden sollen. Nach einer Revolte ist der Männertrakt zurzeit gesperrt, die Frauenabteilung ist weiterhin in Betrieb. Wir sprechen mit den Frauen, versuchen etwas über ihre Geschichte zu erfahren. Häufig haben die Frauen selbst in einer akuten Gefahrensituation die Polizei gerufen und wurden dann aufgrund fehlender Papiere in das Abschiebegefängnis gebracht. Nach dem italienischen Gesetz ist jedoch allen von Menschenhandel betroffenen Personen Schutz zu gewähren. Wir klären die Frauen über ihre Rechte auf, helfen, den ihnen zustehenden Aufenthaltstitel zu bekommen, und versuchen, sie in den Arbeitsmarkt zu integrieren, was aufgrund der all­gemeinen wirtschaftlichen Situation in Italien natürlich sehr schwer ist. Hauptsächlich geht es darum, ihre Abschiebung zu verhindern.
Auch die Schutzeinrichtung, in der wir uns gerade befinden, »Donatella Colasanti und Rosaria Lopez«, sollte zunächst geschlossen werden. Wie ist es gelungen, die Schließung zu verhindern?
Meiner Meinung nach wurde das Zentrum gerettet, weil wir hier auch Aufnahmeplätze bereitstellen – das ist der einzige Unterschied zu SOS Donna. Aktuell wohnen hier sechs Frauen und sechs Kinder, die im Falle einer Schließung ohne Dach über dem Kopf wären. Dieses Vorgehen zeigt aber auch die Art und Weise, wie das Problem seitens der Institutionen angegangen wird, denn selbstverständlich brauchen nicht alle Frauen, die Gewalt erfahren, einen Wohnplatz, sondern vornehmlich juristische und psychologische Unterstützung, um ihre eigenen Ressourcen zu nutzen. Nur diese Einrichtung zu erhalten und alle anderen Dienstleistungen zu streichen, heißt, das Problem allein aus einer Perspektive zu betrachten, in der Frauen völlig hilflos sind.
Die Einrichtung »Donatella Colasanti und Rosaria Lopez« hat ihre Räume in einem mehrstöckigen, von Balkonen umrandeten Gebäude. Dieses liegt in einer parkähnlichen Anlage. Das Tor zur Straße steht offen. Auf dem Gelände befinden sich daneben noch ein Altenheim, eine Tagesklinik für Alzheimerpatienten und eine Einrichtung für Minderjährige. Besteht nicht die Gefahr, dass Gäste unkontrolliert in das Gebäude gelangen können?
Die Einrichtung ist kein geschlossener, geheimer Ort. Die Frauen müssen sich für die Gewalt, die sie erfahren haben, nicht schämen und die Gesellschaft soll wissen, dass es diese Gewalt gibt, denn sie geht die ganze Gesellschaft an. Am Anfang haben die Frauen Angst, die Wohnung zu verlassen, sie fühlen sich von ihren Männern verfolgt und es scheint, als könnten sie nicht in Rom bleiben, als müssten sie die Stadt verlassen. Aber sobald sie psychologische Unterstützung bekommen, sich ihrer eigenen Ressourcen bewusst werden und soziale Kontakte knüpfen, gewinnen sie Zutrauen in die Welt. Es ist sehr viel Leben auf dem Gelände und das ist für die Frauen das Wichtigste. Zwischen den verschiedenen sozialen Einrichtungen, den Betreuerteams und den Bewohnerinnen und Bewohnern herrscht große Solidarität. Aber wir haben natürlich auch Vorsichtsmaßnahmen getroffen, der Eingang zu unserem Stockwerk lässt sich von außen nicht öffnen, er ist videoüberwacht und nachts wird das Eingangstor abgeschlossen.
Die Einrichtung ist nach zwei Frauen benannt, die 1975 in einem Küstenort südlich von Rom von drei jungen Männern vergewaltigt und misshandelt wurden. Rosaria Lopez starb, Donatella Colasanti überlebte schwerverletzt. Das »Massaker von Circeo« hat damals viele feministische Gruppen mobilisiert, die ersten Zentren entstanden aus der autonomen Frauenbewegung. Wie ist das Verhältnis zwischen den Kooperativen, die wie Be Free im öffentlichen Auftrag arbeiten, und selbstverwalteten Frauenzentren?
Das Phänomen der Gewalt gegen Frauen ist sehr komplex, es muss profes­sionell angegangen werden. Be Free ist entstanden, um diese Professionalisierung zu garantieren, es bedarf gewisser Kompetenzen, nicht nur guter Absichten. Deshalb halten wir nicht viel von Organisationen, die mit Ehrenamtlichen arbeiten. Der politische ­Aktivismus ist allerdings eine andere Sache, wir stehen zum Beispiel in ­engem Austausch mit dem aus einer Hausbesetzung hervorgegangenen Zentrum Lucha y Siesta. Da viele Einrichtungen mit der Stadtverwaltung Probleme haben – einigen wurde das Licht abgestellt, anderen plötzlich und übermäßig die Miete erhöht –, waren im Sommer anlässlich der Schließung von SOS Donna viele Gruppen und Organisationen im Protest vereint.
Sind in den nächsten Monaten weitere gemeinsame Aktionen geplant?
Anlässlich des internationalen Tags zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen hat das von verschiedenen Frauengruppen getragene Netzwerk »Io decido« (»Ich entscheide«, Anm. d. Red.) für den 26. November zu einer nationalen Demonstration aufgerufen. Anders als beim sensationslüsternen Blick auf die Gewalt gegen Frauen geht es darum, ein Bewusstsein zu schaffen, dass die Gewalt nicht mit Worten, sondern mit Taten zu bekämpfen ist. Wir brauchen Aufklärungs- und Präventionsprogramme in den Schulen und Universitäten und eine Sensibilisierung aller staatlichen Institutionen von den Kommissariaten bis zu den Justizbehörden. Der nationale Aktionsplan zur Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen muss überarbeitet und mit den örtlichen Einrichtungen gemeinsam umgesetzt werden.