Angela Merkel flötet wieder

Alternativlos mit Flöte

Angela Merkels Politik ist einigen Mitgliedern in der Union nicht mehr rechts genug. Zugleich distanziert sich die CDU-Spitze von AfD-Sympathisanten in der Partei. Das stärkt Merkel. Eine Alternative zu ihr als Kanzlerkandidatin gibt es ohnehin nicht.

Eigentlich sind in der elfjährigen Kanzlerschaft von Angela Merkel viele Träume von Konservativen und neoliberalen Wirtschaftsverbänden in Erfüllung gegangen. Das Bundeskriminalamt und der Bundesnachrichtendienst können mit neuen Befugnissen ungehemmter ermitteln als je zuvor. Das auf die Erfahrungen mit dem National­sozialismus zurückgehende Trennungsgebot für Polizei und Geheimdienst ist praktisch aufgehoben. Mit der Vorratsdatenspeicherung wurde die anlass­lose Massenüberwachung zum Gesetz. Vehement wehrt sich Merkel gegen die rechtliche Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften mit der Ehe. Dass nicht nur ihr christlicher Glaube groß ist, sondern auch der an den Primat der Wirtschaft, bewies Merkel 2011 mit ihrer Forderung, »die parlamenta­rische Mitbestimmung so zu gestalten, dass sie trotzdem auch marktkonform ist«. Renitente Mitglieder der Euro-Zone, die die deutsche Austeritätspolitik nicht hinnahmen, wurden im Zuge der Schuldenkrise mit der gebündelten Macht des Internationalen Währungsfonds, der EU-Kommission und der ­Europäischen Zentralbank in die Schranken verwiesen. Unter kräftiger Mithilfe der Bundeskanzlerin konnte die sogenannte Troika die Sozialsysteme von Griechenland, Spanien und Portugal zerstören und die Privatisierung staat­lichen Eigentums erzwingen.
Auch die zahlreichen Gesetze und Maßnahmen zur Rettung Deutschlands vor Migranten und Flüchtlingen, das seit vergangenem Jahr in Rekordzeit beschlossen wurde, sind Teil von Merkels konservativer Politik.
Die Länder des Westbalkans und womöglich bald auch Algerien, Tunesien und Marokko gelten als »sichere Herkunftsstaaten«, Bürger dieser Länder haben keine Chance mehr auf Asyl. Bargeldleistungen für Geflüchtete werden durch Sachleistungen ersetzt. Der Familiennachzug wurde bereits stark eingeschränkt, ein Schnellverfahren mit extrem kurzen Fristen durchgesetzt. Straffällig gewordene Ausländer können bei Vergehen nun schneller abgeschoben werden, unabhängig von der verhängten Strafe. Entschiedener als Merkel hat seit den neunziger Jahren kein deutsches Regierungsoberhaupt das Asylrecht eingeschränkt.
Den Gegnern der Bundeskanzlerin ist das nicht rechts genug. Den Pegida-Mob auf den Straßen, die »Alternative für Deutschland« (AfD) in den Landesparlamenten, die Wutbürger auf Facebook und schnaubende Mitglieder von CDU-Ortsverbänden eint ein Imperativ, der bundesweit als Graffito Häuserwände, Bahnbrücken und vandalisierte Wahlplakate ziert: »Merkel muss weg«. Mit der Entscheidung, die Grenze zu Österreich auf dem Höhepunkt der sogenannten Flüchtlingskrise nicht zu schließen und mindestens eine Million Asylsuchende ins Land zu lassen, hat sie in den Augen vieler Deutscher innerhalb und vor allem außerhalb ihrer Partei Hochverrat begangen. Nach der Abschaffung der Wehrpflicht, dem Atomausstieg, der Frauenquote in Aufsichtsräten von Dax-Unternehmen und kleineren Wahlgeschenken für Familien und Rentner , erschien die Flüchtlingspolitik als ein weiterer Schritt zur Sozialdemokratisierung der Union. Und auch die linksliberale ­Öffentlichkeit zollte Merkel für die humanitär begründete Ad-hoc-Entscheidung des vergangenen Jahres Respekt. Derselben Kanzlerin, deren menschlichster Moment bis dahin darin bestanden hatte, in einer Fernsehsendung ein weinendes Flüchtlingsmädchen streicheln zu wollen, nachdem sie ihm zuvor erklärt hatte, dass Deutschland nicht alle Menschen aufnehmen könne.
Merkel befindet sich von pragmatischen Schlenkern abgesehen voll auf CDU-Parteilinie und verfolgt ein Regierungsprogramm, das weitere unerwünschte Migranten von der Bundesrepublik fernhalten soll. Ihre rechten Fundamentalopponenten und ihre progressiven Fans begreifen das nur allmählich. Im Spiegel frohlockte der stellvertretende CSU-Vorsitzende Manfred Weber vergangene Woche, dass sich »CDU und CSU in der Flüchtlingsfrage zu 95 Prozent einig« seien. Einzige Ausnahme sei der Streit um die Obergrenze. Diese möchte die bayerische Schwesterpartei in einer Koalitionsvereinbarung durchsetzen. Insbesondere Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer setzt sich seit dem vergangenen Jahr vehement für die Einführung einer Obergrenze ein und gefällt sich in der Rolle des Mahners der Bundesregierung, der, ohne Kabinettsmitglied zu sein, von München aus den Ton in der Debatte vorgibt.
Provokationen wie das laute Nachdenken über ein deutschlandweites Antreten der CSU bei der nächsten Bundestagswahl oder die Bildung einer ­eigenen Fraktion können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die bayerische Partei zu schwach ist, um sich von Merkel zu distanzieren. Dem Vernehmen nach wird die Bundeskanzlerin nicht, wie es seit den fünziger Jahren für CDU-Vorsitzende üblich ist, zum CSU-Parteitag Anfang November nach München reisen. Seehofer wiederum wird sich möglicherweise seinen Besuch beim CDU-Bundesparteitag in Essen im Dezember sparen. Doch allen Reibereien zum Trotz kann die CSU weder einen geeigneten Gegenkandidaten aus den eigenen Reihen oder denen der Christdemokraten vorweisen , noch eine kohärente Strategie für die Zeit nach Merkel. Deshalb lenken die Bayern ein.
»Wenn Angela Merkel bereit ist, erneut als Bundeskanzlerin zu kandidieren, hat sie meine volle Unterstützung«, sagte die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Gerda Hasselfeldt, der Mitteldeutschen Zeitung. Auch der ehemalige CSU-Vorsitzende Erwin Huber bekennt sich deutlich. »Frau Merkel sollte Kanzlerkandidatin werden«, sagte er dem Kölner Stadt-­Anzeiger.
Die Zeit für einen Streit innerhalb der Union wäre ohnehin denkbar knapp. Die Amtsinhaberin wird voraussichtlich am 21. November verkünden, ob sie erneut für den Vorsitz ihrer Partei kandidieren wird. An diesem Tag wird die letzte Sitzung des CDU-Präsidiums vor dem Essener Parteitag stattfinden. Da Merkel mehrmals deutlich gemacht hat, dass für sie das Amt der CDU-Vorsitzenden und die Kandidatur als Bundeskanzlerin untrennbar verbunden sind, wird die wichtigste Personalie für den Bundestagswahlkampf 2017 auf diese Weise mitentschieden.
Dass Merkel sich noch einmal um den Parteivorsitz bewerben wird, ist wahrscheinlich. Auch gibt es niemanden mehr in der CDU, der offen Ansprüche auf das Amt des Regierungsoberhaupts erhebt. Als mögliche Nachfolger hoch gehandelte Politiker wie der ehemalige Bundesumweltminister Norbert Röttgen, Niedersachsens ehemaliger Ministerpräsident David McAllister und die rheinland-pfälzische CDU-Vorsitzende Julia Klöckner haben entweder die Unterstützung Merkels verspielt oder sich durch Niederlagen bei Landtagswahlen unmöglich gemacht. Als einzig realistische Option bliebe noch Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, die allerdings durch ihre für CDU-Verhältnisse zu progressiven Entscheidungen als ehemalige Arbeits- und Familienministerin sowie durch ihre Unterstützung von Merkels Flüchtlingspolitik bei vielen Parteimitgliedern kein großes Vertrauen mehr genießt.
Die Flüchtlingspolitik des vergangenen Jahres wird die CDU-Basis Merkel ohnehin nicht mehr verzeihen. Die sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Veronika Bellmann sagte dem Spiegel, dass in der Partei eine »50/50-Stimmung« herrsche, was das Bekenntnis zur Vorsitzenden betrifft. »Die Hochachtung vor der Kanzlerin hält sie noch von einer Revolte ab.« Diese Dynamik könnte die CDU langfristig dazu drängen, Positionen der AfD zu übernehmen (siehe hierzu auch Seite 6). Die Wählerwanderung zu den Rechtspo­pulisten ist beträchtlich. In Sachsen-Anhalt und in anderen Bundesländern beginnen bereits die Diskussionen, ob und wie die CDU mit der neuen reaktionären Konkurrenz kooperien könnte. Zugleich distanziert sich die CDU von AfD-Sympathisanten in den eigenen Reihen. Auf dem Sonderparteitag der CDU Mecklenburg-Vorpommerns bekannte sich Merkel ausdrücklich zur christlichen Tradition. »Wir sind die Partei mit dem C im Namen«, betonte sie. »Ich weiß, dass es Sorgen vor dem Islam gibt«, sagte sie mit Blick auf die AfD. Es liege aber an den Bürgerinnen und Bürgern, diesen Sorgen durch die Pflege christlicher Traditionen zu begegnen. Merkel empfahl ihren Parteikollegen, mehr christliche Weihnachtslieder zu singen. Am besten mit Blockflötenbegleitung.