Erinnerungen an Klaus Behnken

Das alles und noch viel mehr

Ohne Klaus Behnken wäre die »Jungle World« nicht das, was sie ist. Vermutlich gäbe es sie gar nicht.
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»Ich besuche dich wieder, wenn sie dich nach oben verlegt haben.« Oh, wie ich mich für diesen Satz verflucht habe. Es waren meine letzten Worte, die ich vor zwei Wochen zu Klaus Behnken sagte, als ich ihn im Urban-Krankenhaus besuchte. Er war an unzählige Schläuche und Maschinen angeschlossen, sprach durch eine Atemmaske. Ich meinte natürlich: nach oben im Urban, in die besseren Etagen, raus aus der Intensivstation im Erdgeschoss. Als ich aus der Tür war, dachte ich: Oh mein Gott! Wenn er das jetzt missverstanden hat! »Nach oben«, das kann ja alles Mögliche bedeuten, nun ja, vor allem eines natürlich… (Ich schreibe dies, weil ich weiß, dass Klaus über diesen Einstieg geschmunzelt hätte, sein wunderbares schelmisches Schmunzeln, und vielleicht auch in der absurden Hoffnung, dies jetzt noch irgendwie klarstellen zu können.) Klaus sagte, bevor ich ging: »Grüß die anderen!« Und es war nicht nötig zu sagen, wen er damit meinte. Natürlich unsere Familie, unsere Jungle-Familie. Auch wenn Klaus viele wie auch mich seit Jahren kaum gesehen hatte und so manche mit ihm im Zwist lagen, war, ist und bleibt da eine sehr tiefe Verbundenheit.
Im Grunde kannte ich ihn kaum – aber ich wäre für ihn immer durchs Feuer gegangen. Und bin gegangen. Damals beim Streik in der Redaktion der Jungen Welt. Jenes Feuer, welches zur Gründung der Jungle World führte. Und auch dazu, dass es heute – weltweit einzigartig – in Deutschland (und Österreich) zwei radikal linke Strömungen gibt; eine davon proisraelisch, menschlich, hedonistisch, selbstkritisch, antiautoritär, frei von Verschwörungstheorien, im weitesten Sinne des Wortes gay – und eine, naja, Sie wissen schon. Das verdanken wir Klaus Behnken; er ist also eine historische Persönlichkeit – und hat es doch nie auch nur zu einem Wikipedia-Eintrag gebracht. So etwas war ihm egal. Er suchte keinen Ruhm. Eher sogar scheute er die Öffentlichkeit. Er schrieb nicht einmal Artikel unter seinem richtigen Namen, bis auf wenige Ausnahmen. Er verstand seine Aufgabe eher darin, andere anzuleiten, mitzunehmen, zu fördern, zu verbessern, zu motivieren. Das hat er mit großer Hingabe und Ausdauer getan. Er ging nicht morgens zur Arbeit; die Arbeit und sein Leben, das war eines. Auch deswegen konnte er schlecht Kompromisse machen.
Die wenigen Nachrufschreiber dieser Tage stehen vor dem Phänomen, sich von einem großen Intellektuellen zu verabschieden, der kaum ein eigenes schriftliches Werk hinterlassen hat – soviel wir wissen. Er war so klug, so gebildet, aber kein Theoretiker. Er wusste, dass es auf die Menschen ankommt, auf die Praxis. Es finden sich öffentlich nur wenige, kleine Hinweise auf sein Wirken. Da war der politische Klaus: Als SDS-Mitglied hatte er zusammen mit zwei Genossen im Februar 1968 bei einer unangemeldeten Vietnam-Demonstration eine halbe Stunde lang den Verkehr blockiert. Dafür wurde er wegen »gemeinschaftlicher Nötigung« zu drei Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Dafür wurde er wegen »gemeinschaftlicher Nötigung« zu drei Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Udo Knapp, sein damaliger Weggefährte, der letzte Vorsitzende des SDS, sagt heute über ihn: »Klaus war sehr bescheiden. Er war bei uns im Bundesvorstand für das Feine zuständig, für das Geschliffene. Ich war ihm immer zu grob.«
Da war der Lektor Klaus: im März-Verlag in den siebziger Jahren, seine Mitarbeit an Bernward Vespers Buch »Die Reise«. Klaus, der Schauspieler: 1991 eine Hauptrolle in dem Film »Der zynische Körper«. Darin geht es um den Tod eines Lektors, den Behnken spielte. Seine Freunde nehmen den Tod zum Anlass, über ihre Arbeit, die Gebrechlichkeit des Körpers und das Unvergängliche der Kultur nachzudenken. Sie kramen ihre Notizbücher hervor und rekonstruieren ihre gemeinsame Geschichte. Heute sind wir es, die im Archiv suchen und die Vergangenheit rekonstruieren. Hier und da ein paar kleine Schnipsel. Hinterlassen hat Klaus eher etwas anderes: Freunde, eine große Schar an Behnken-Schülern – und nicht zuletzt natürlich: die Jungle World.
Diese Zeitung wäre nicht nur nicht diese Zeitung ohne Klaus Behnken. Es gäbe sie gar nicht. Klaus war nicht nur der Anlass für das Zerwürfnis mit den Traditionslinken der heutigen Jungen Welt, deren Chefredakteur er zwischen 1994 und 1997 war, er war auch Gründer, Mastermind und lange Zeit Spiritus Rector der Jungle World. Niemand prägte sie so wie er: inhaltlich, stilistisch, handwerklich, ästhetisch. Jeden, wirklich jeden Text las er selbst. Seine Autorität war, wie man so sagt, eine »natürliche«, sie entstand aus dem Respekt ihm gegenüber und aus seiner Aura, vielleicht auch seinem Alter. Er war der Älteste von uns. Man kann selbstverständlich auch sagen: Sie war nicht demokratisch legitimiert, und es war nicht immer leicht, mit ihm zusammenzuarbeiten. Er war als Chefredakteur und Chef vom Dienst oft dickköpfig und verbissen; nicht wenige haben sich im Laufe der Jahre mit ihm zerstritten. Doch der Respekt blieb. Wenn sich Klaus ereiferte, dann nur, weil es ihm wichtig war, weil er einen Standpunkt hatte, weil das alles kein Spiel war, weil wir Geschichte schrieben und ihm das bewusst war.
In den ersten Jahren der Jungle World war die Zahl der Frauen in der Redaktion überschaubar, um es vorsichtig zu sagen. Nicht wenige witzelten über diese Jungsredaktion. Auch das stimmte. Ich war gerne einer »seiner« Jungs, aber es war klar, dass diese Konstellation nicht für alle ideal war. Seine strenge Korrektur, seine Gründlichkeit, seine Schonungslosigkeit, seine Pedanterie waren zuweilen anstrengend, doch haben sie den Grundstein gelegt für die hohen Qualitätsansprüche, die diese Zeitung bis heute hat, obwohl sie im Grunde überhaupt nicht über die ökonomischen Ressourcen verfügt, diese Qualität dauerhaft herzustellen. Dass es dennoch immer wichtig ist, die höchsten Maßstäbe an jeden einzelnen Satz, an jede einzelne Headline, an jedes Bild, ja an jedes verdammte Komma, an die Ästhetik und den gesamten Sound der Zeitung anzulegen, das hat uns Klaus Behnken, sagen wir, eingebläut.
Doch wir alle wussten auch, wie zart, wie weich, wie sensibel Klaus war, nicht zuletzt, weil wir ihn bei der über zweiwöchigen Besetzung der Redaktionsräume der Jungen Welt erlebt hatten – quasi rund um die Uhr (»quasi« – er hat wirklich alles versucht, mir die Verwendung dieses Wortes auszutreiben, und wenn dies nicht sein Nachruf wäre, hätten es seine Nachfolger mir auch, zu Recht natürlich, noch heute herausredigiert). Er blieb ruhig, konzentriert, sanft, entschlossen, aber nie verbittert – in einer hochemotionalen Situation, in der es auf jedes Wort, jeden Blick, jede Entscheidung ankam. Er war es, der dafür plädierte, sich im Kampf an den Langsamsten, an den Schwächsten zu orientieren, an jenen, die zögerten, die sich sorgten, die am meisten zu verlieren hatten oder das zumindest glaubten. Lieber alle zusammen untergehen, als dass unser Kollektiv auseinanderbricht, als dass die gute emotionale Erfahrung dieses kräftezehrenden Streiks von Auflösungserscheinungen, von menschlicher Enttäuschung getrübt werden könnte.
Ich kann gar nicht ausdrücken, wie sehr mir diese Haltung, die uns zunächst geschwächt, langfristig aber unfassbar gestärkt hat, imponierte, wie sehr dies mein Leben verändert hat. Und ich bin sicher, ich bin nicht der einzige, der sagen wird: Klaus Behnken ist einer der Menschen, die mich stark geprägt haben. Ich hatte eine Weile bei mir zu Hause ein Foto von Pier Paolo Pasolini an der Wand hängen. Heute kann ich ehrlich sein, das war vermutlich ein Stellvertreterbild. Es hätte vielleicht auch Bert Brecht sein können, ja, ich glaube, so manches Brecht-Bild in den Wohnstuben alter Kollegen soll eigentlich Behnken darstellen. Wenn vielleicht auch nur unbewusst.
Klaus Behnken wurde ein echter Achtundsechziger. Als ich ihn kennenlernte, war er also ein Altachtundsechziger. Aber er hatte sich nicht in Politsekten verloren, er marschierte nicht durch die Institutionen, ging nicht zu den Grünen. Er blieb antiautoritär, staatskritisch, rebellisch, manchmal trotz allem libertären Geist auch dogmatisch; er war aber kein Aktivist, kein Organisierer, keiner, der Menschen vorschreiben wollte, wie sie zu leben oder wie sie zu handeln hätten. Niemand, der Politik danach bewertete, ob sie erfolgreich ist, sondern danach, ob sie richtig ist. Richtig, wahr und schön. Und der wusste, dass man mit dieser Einstellung keine Partei gründen kann, aber eben doch eine Zeitung. Hauptsache aufmüpfig, kritisch, an­ta­gonistisch – und menschlich! Und schön! Alles andere kommt danach. Er hat die Achtundsechziger nicht verklärt, nicht romantisiert, aber er hat sie immer gegen Angriffe der Reaktion in Schutz genommen. 2008 schrieb er in der Jungle World: »Nicht Antiamerikanismus zeichnete die Studentenbewegung aus – Amerikanismus! Sangen wir 1968 bei der polizeilichen Räumung des besetzten örtlichen Luftschutzhilfsdienstes (!) in Tübingen etwa ›Unsre Fahne flattert uns voran, unsre Fahne ist die neue Zeit‹? Nein, wir hakten uns unter und gospelten ›We shall overcome‹. Antiamerikanisch, nein, höchstens peinlich.«
Ganz frei von Nostalgie war Klaus nicht. Wenn er sich mal zurückzog in sein Büro, dann hörte man durch die geschlossene Tür klassische Musik oder eben doch Arbeiterlieder, Ernst Busch. Aber dass er seit den Neunzigern in der ehemaligen WG der Ton Steine Scherben am Tempelhofer Ufer wohnte, war angeblich eher ein Zufall. Dort haben wir die ersten Ausgaben der Jungle World produziert, womöglich in demselben Zimmer, in dem zuvor die Scherben und ihre Freunde Plastikzwillen auf die Plattencover ihrer Langspielplatten klebten. Das zu erwähnen, mag als Koketterie erscheinen, doch es ist sicher eine der wenigen Koketterien, die Klaus gutfinden würde. Drum sei es gesagt.
Erfunden hat Klaus Behnken nicht nur die Jungle World, sondern auch die Auslandsreisen der Redaktion. Es war 1998, im ersten Sommer nach der Gründung, immer noch Pionierphase, und wir hatten weder Zeit noch Geld für Urlaub – und im Streik­jahr 1997 war der ja auch schon ausgefallen! Also luden wir einfach alle Computer, Monitore, Drucker, Tastaturen, Kabel und was man damals so brauchte, in ein paar Autos und fuhren in ein Ferienhaus nach Dänemark, um Arbeit und Urlaub zu verbinden und eine Ausgabe der Jungle World von dort zu produzieren. Damals hatten wir gar nicht den Plan, wie inzwischen bei den Auslandsausgaben dieser Zeitung, eine Sondernummer über Dänemark zu machen. Wir fuhren wirklich zusammen in den Urlaub. Wir Jungs spielten Fußball im Garten, Klaus kochte für uns. Auf seinen Schweinebraten war er stolz. Er war ein guter Koch und ein Genießer, obwohl er selbst kaum aß. Nebenher entstand in nur einer Woche tatsächlich eine Zeitung.
2010 dann die schreckliche Diagnose: Lungenkrebs. Mit seiner halben Lunge hatte Klaus Mühe mit den Treppen. Aber er fing sich wieder. Diesen Sommer hatte er in Frankreich verbracht und sich ein paar Kilo auf seinen immer schon hageren Körper gefuttert, wie er mir bei meinem Besuch am Krankenbett stolz berichtete. »Und jetzt das hier! Alles wieder weg! Das ärgert mich. Echt!« Er hielt seinen dünnen Arm hoch. Dabei sah er selbst jetzt, an all diesen Schläuchen hängend, noch wunderschön aus. Ich habe leider versäumt, ihm das in diesem Moment zu sagen, wie so vieles. Eine Kollegin schrieb nun nach seinem Tod, nach dem man ihn also wirklich quasi »nach oben verlegt« hat: »Er war ein schöner Mensch.« Das war er! Oh ja, das war er.