In den Ballungsräumen wächst die Wohnungsnot

Golfplätze statt Sozialwohnungen

In den Ballungsräumen Deutschlands wird die Wohnungsnot immer größer. Doch sozialen Wohnungsbau gibt es praktisch nicht mehr. Nur 15 000 Wohnungen wurden vergangenes Jahr in diesem Segment gebaut.

Uralte gelbliche Tapeten hängen herab und dünsten Nikotin aus. Das Wohnzimmer ist voller Bauschutt, im Bad ragen verrostete Rohre aus der Wand, eine Toilettenschüssel gibt es nicht. 800 Euro kalt will der Vermieter für die kleine Bruchbude mit zwei Zimmern in Berlin-Neukölln. Im Internet hat er sie als »sofort bezugsfähig« beschrieben. Dutzende sind zur Besichtigung erschienen. Die meisten wenden sich schauernd ab, doch einige sind interessiert. Die katastrophale Lage auf dem Wohnungsmarkt in Ballungsgebieten erlaubt es Vermietern, auch die gruseligste Behausung zu überhöhten Preisen zu vermarkten.
Dass so etwas möglich ist, ist das Resultat der völlig verfehlten Wohnungspolitik der vergangenen zwei Jahrzehnte. Es fehlen Hunderttausende Wohnungen, so das »Verbändebündnis Wohnungsbau«. In diesem Bündnis haben sich der Deutsche Mieterbund, die Gewerkschaft IG Bauen-Agrar-Umwelt, der Zentralverband Deutsches Baugewerbe und weitere Verbände der Baubranche zusammengeschlossen. Für Mieter und Bauwirtschaft hat die ­ausbleibende Schaffung von Wohnraum zwar sehr unterschiedliche Auswirkungen, aber auf beiden Seiten entsteht Leidensdruck: für die Unternehmen der Branche, weil sie wenige Aufträge haben, und für die Bürger, weil sie hohe Mieten zahlen müssen. Das Bündnis übt heftige Kritik an der Bundesregierung und Bundesbauministerin Barbara Hendricks (SPD), weil sie zu wenig unternähmen, um Neubauten zu fördern.
Wer zurzeit eine Wohnung sucht, muss sich auf einiges gefasst machen und eine dicke Bewerbungsmappe ­parat haben, die eine Schufa-Auskunft, eine sogenannte Mietschuldenfreiheitsbescheinigung des aktuellen Vermieters, Gehaltsbescheinigungen und einiges mehr enthält. Wer so etwas nicht vorweisen kann, hat schlechte Karten und muss sich oft mit unzumutbaren, dabei keineswegs günstigen Wohnungen in Randlage begnügen. In Berlin sind die Mieten zwischen 2009 und 2014 um 56 Prozent gestiegen, in Augsburg um 50 Prozent, in Kiel um 49 Prozent und in Dresden um 34 Prozent.
Der Wohnungsmangel ist keineswegs Resultat der Zuwanderung von Flüchtlingen, sondern des Rückzugs des Staates aus diesem Feld. Um die Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg in den Griff zu bekommen und eine hohe Mietsteigerung zu verhindern, machte in den fünfziger Jahren die Bundesregierung unter Kanzler Konrad Adenauer (CDU) Immobilienbesitzern rigide Vorschriften, etwa mit Kündigungs­verboten. Außerdem investierte der Staat viel Geld in die Schaffung von Wohnraum für ärmere Menschen. In den achtziger Jahren unter Kanzler Helmut Kohl (CDU) wurde der soziale Wohnungsbau stark eingeschränkt. Doch erst die rot-grüne Koalition schaffte ihn praktisch ab. Unter Kanzler ­Gerhard Schröder (SPD) wurde in der Bundesrepublik die Wohnungspolitik zur Wohnungsmarktpolitik – und die Mieter wurden dem Renditebestreben der Eigentümer ausgeliefert.
Ende der neunziger Jahre setzte eine Privatisierungswelle ein, die noch nicht verebbt ist. Bund, Länder, Kommunen, aber auch ehemalige Staatsunternehmen wie die Deutsche Bahn verkauften Hunderttausende Wohnungen. In etlichen Kommunen sind weitere Privatisierungen in Planung. Davon profitieren Immobilienfonds und Investmentgesellschaften. Eindecken konnten sie sich zum Schnäppchenpreis: Zwischen 1999 und 2007 kostete eine Wohnung im Schnitt 44 000 Euro, bei sehr großen Transaktionen sogar noch weniger. Um hohe Renditen zu erwirtschaften, erhöhen Investoren nicht unbedingt die Miete. Auch durch das Herauszögern von Renovierungen und Reparaturen lässt sich der Gewinn vergrößern.
Längst leiden nicht mehr nur Arme oder Studierende unter den Mieter­höhungen, sondern auch Durchschnittsverdiener. Eine Folge ist die soziale Spaltung der Wohnbevölkerung. Schöne Wohnungen in guter Lage können sich vor allem Wohlhabende leisten, alle anderen werden verdrängt. Die SPD hat darauf mit der sogenannten Mietpreisbremse reagiert, die sie in der Großen Koalition durchgesetzt hat. In Ballungsräumen darf für Neubezieher die Miete um nicht mehr als zehn Prozent über den ortsüblichen Vergleichswerten angehoben werden. Abgesehen davon, dass damit das Problem der bereits zu hohen Mieten nicht gelöst wird, funktioniert die »Bremse« nicht. Viele Eigentümer halten sich nicht daran und Mieter haben kaum eine Handhabe, sich zu wehren.
Anders als zu Adenauers Zeiten greift die Bundesregierung nicht selbst in den Wohnungsmarkt ein. Bauministerin Hendricks versucht, Investoren für Neubauten zu gewinnen. Sie hat im Juli 2014 das »Bündnis für bezahlbares Wohnen« ins Leben gerufen. Etwas mehr als ein Jahr später folgte ein Zehn-Punkte-Programm für eine »Wohnungsbauoffensive«. »Der Bund bringt mit der verbilligten Abgabe von Grundstücken, Förderanreizen, Vereinfachungen im Bauplanungsrecht und der Förderung von kostengünstigen ›Vario-Wohnungen‹ ein umfassendes Maßnahmenpaket auf den Weg«, sagte sie. ­»Vario-Wohungen« sind Kleinstbehausungen etwa in Containern. Gebracht hat Hendricks Maßnahmensammelsurium bislang nichts. Das Verbändebündnis Wohnungsbau fällt ein vernichtendes Urteil. »Die Große Koalition ist über die Analysephase kaum hinausgekommen«, heißt es in einer Erklärung. »Statt Vollgas zu geben, fährt der Wohnungsneubau im ersten Gang.« Die Baubranche kritisiert unter anderem, dass es zu wenig finanzielle Anreize vom Bund gebe. Außerdem sieht Hendricks’ Programm vor, dass Bund, Länder und Kommunen billiges Bauland bereitstellen. Doch den Finanzministern seien hohe Erträge wichtiger, kritisiert das Bündnis.
Dabei wird durchaus viel gebaut. Zwischen Januar und August 2016 haben die Behörden nach Angaben des Statistischen Bundesamts den Bau von 245 300 neuen Wohnungen genehmigt. Das sind 25 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Seit mehr als 15 Jahren ist in Deutschland nicht so viel gebaut worden. Neuer Wohnraum entsteht aber vor allem im Luxussegment. Um den Gesamtbedarf zu ­decken, müssten jährlich 400 000 neue Wohnungen fertiggestellt werden. 2015 waren es aber nur 248 000 – und davon waren nur 46 000 Mietwohnungen, darunter lediglich 15 000 Sozialwohnungen.
Beim sozialen Wohnungsbau gehen die Wohnungen nach Auslaufen der staatlichen Unterstützung in den allgemeinen Markt über – aus günstigen werden teure. Werden keine neuen gebaut, sinkt also die Zahl der Sozialwohnungen. Der Bestand ist zwischen 2002 und 2013 von 2,4 Millionen Wohneinheiten auf 1,5 Millionen gesunken. Die Zahl der geförderten Wohneinheiten lag 2013 bei 39 804, darunter waren nur 9 874 Mietwohnungen. Denn wird auch Eigentum wie das Einfamilienhaus wird gefördert.
Erst im Zuge der Zuwanderung von Flüchtlingen hat der Bund die Förderung für den sozialen Wohnungsbau erheblich aufgestockt. Die Bundesregierung will den Bundesländern dafür bis 2019 jährlich 1,5 Milliarden Euro dafür bereitstellen, dreimal so viel wie ursprünglich geplant. Seit 2007 sind die Länder alleine für den sozialen Wohnungsbau zuständig, dafür sah der Bund Kompensationszahlungen in Höhe von ungefähr 500 Millionen Euro jährlich vor. Doch seit 2014 besteht für die Länder nicht mehr die Pflicht, dieses Geld in den sozialen Wohnungsbau zu stecken. Sie können damit auch Golfplätze oder Luxuswohnungen bauen.