Die CDU wirkt moderner, als sie ist

Im Zweifel nicht links

Den Konservativen gilt Merkel als heimliche Sozialdemokratin, von Reaktionären wird sie als Volksverräterin beschimpft, sogar als Antideutsche wurde sie schon bezeichnet. Unter Linken dagegen gilt sie mittlerweile als ganz okay. Einige empfinden eine gewisse Faszination für sie und eine Zeitlang war sie sogar ein heimlicher Star.

Als Angela Merkel die CDU übernahm – damals, nach dem Spendenskandal, in dem die bräsige Führung um Helmut Kohl illegale Partei­spenden als Erbe deutscher Juden und Jüdinnen deklarierte –, war die Partei nicht nur moralisch am Ende, sondern auch politisch. Die Union, die den Konservatismus immer als »Spitze des Fortschritts« (Franz Josef Strauß) verstand, war vom Fortschritt überholt worden. Die Grünen saßen zusammen mit der SPD in der Regierung und die unsympathischen alten Männer der Union verschreckten systematisch Wählergruppen. Insbesondere Wählerinnengruppen. Angela Merkel wollte das ändern, die CDU moderner und urbaner machen. Sie wollte Muslime für die CDU gewinnen und junge, konservative Frauen, von denen es mehr gibt, als oftmals angenommen wird. Konservativ heißt nicht automatisch reaktionär und menschenverachtend, weswegen Merkel die CDU auch inhaltlich öffnen musste. Es ist daher kein Zufall, dass die Einführung der Vätermonate in ihre Amtszeit fiel. Konservatismus beschreibt eine relative Position, entsprechend verändert sich, was konservativ meint. Und tatsächlich: Die BRD ist in der Zeit ihres Bestehens nach links gerückt. Ausgehend vom Nationalsozialismus ist das wahrlich keine Kunst, wenn auch trotzdem ein mühsamer Kampf. Aber gesellschaftlicher Fortschritt hat auch vor den Deutschen nicht Halt ­gemacht. Und so ist auch der neue deutsche Konservatismus mental nicht mehr den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verhaftet. Das neue Bürgertum findet Klimaschutz gut, hat ein Herz für arme Kinder und gar nicht mehr so viel gegen Homosexuelle. Es findet Frauen in Führungs­positionen ganz gut, genau wie Pippi Langstrumpf. Und Anteilnahme für Ausländer bringt es auch auf. Es arbeitet selbst fleißig und findet Grenzen wichtig, also so allgemein. Es kann Cem Özdemir ganz gut leiden. Es ist die Grundlage für Schwarz-Grün.
Merkel, die beinharte Technokratin mit ein wenig Herz, ist politisch also nur so links wie die Republik. Oder immerhin so links, wie die Republik von Merkel gehalten wird. Sie ist ein Spiegel dessen, was die Bundesrepublik ist, und hat die CDU entsprechend umgeformt. Bei der Bundestagswahl 2013 zahlte sich diese Strategie so gut aus, dass die CDU fast die absolute Mehrheit erreichte. Eine Sensation, Merkel stand für die volksparteiliche Erneuerung der Union. Der Erfolg gab ihr Recht. Bis die Flüchtlinge kamen. In einem unerwarteten Akt der Menschlichkeit – es gibt auf Nachfrage des Spiegel keine Akten zum Vorgang, was deutlich macht, dass alles kaum und nur kurzfristig geplant war – entschied Merkel im Spätsommer 2015, die Grenzen für die Flüchtlinge nicht zu schließen, und löste damit ein politisches Erdbeben aus. Überall auf der Welt wurde die Entscheidung wahr­genommen, sie wurde zur Ikone einer globalisierten Welt, die gerne human sein will.
Wie es mit Ikonen so ist, werden sie geliebt und gehasst, Indifferenz lässt sich kaum aufrechterhalten, vor allem bei einem Thema, das die Grundfesten der internationalen Ordnung berührt, in diesem Fall die Frage nach der Macht der Nationalstaaten und ihrer Beschaffenheit. Und wie hätten Linke diesen erstaunlichen Beweis des Primats des Politischen nicht unterstützen können? Die Kanzlerin einer über lange Jahre konservativen Partei lehnt eine nationale Abgrenzung ab und heißt Flüchtlinge willkommen. Jedes noch so zynische Antifa-Herz musste da einen kleinen Hüpfer machen und jeder traditionelle Deutsche musste ausflippen. Dass Merkel politisch mittlerweile eingeknickt ist vor den rechten Schreiern der CSU und der AfD, hat schmerzhaft daran erinnert, dass Merkel den Zusammenhalt ihres Kabinetts im Zweifel vorzieht und die rechten Teile der Union auch zufriedenstellen möchte.
Aber kurzzeitig vergaßen und vergessen die Menschen manchmal, dass Merkel auch eine konservative Politikerin ist. Das hat viele Gründe: ihre innere Distanz zum pathetischen Nationalismus – man erinnere sich daran, wie sie am Wahlabend 2013 Hermann Gröhe das Deutschlandfähnchen entriss –, oder dass sie immer wieder reaktionäre Parteigenossen bändigte. Sei es nun Martin Hohmann, auf dessen Ausschluss aus der Bundestagsfraktion wegen antisemitischer Äußerungen sie bestand, oder als sie ihrer sozial­demokratischen Ministerin Manuela Schwesig im Konflikt über die Frauenquote gegen Volker Kauder beistand. Überhaupt: Frauenquote, Mindestlohn, Vätermonate sind alles Themen, die eher einer rot-grünen oder rot-rot-grünen Koalition zugetraut wurden. Auf der anderen Seite hat Rot-Grün auch Krieg geführt und den Sozialstaat demontiert.
Aber die Angriffe auf Merkel haben ein wenig vergessen lassen, dass sie selbstverständlich keine Linke ist. Egal wie sehr Linke sich das manchmal vielleicht wünschen, Liberale es schön reden und Reaktionäre es bejammern. Überhaupt die Reaktionären. Also diejenigen, denen die deutsche Hegemonie in Europa nicht weit genug geht, die vom deutschen Reich schwadronieren und von arischem Blut, vom Volkskörper und all dem Kram, dessen sich die neuen deutschen Konservativen so großzügig entledigt haben.
Der gesellschaftliche Fortschritt ist fragil. Dass Merkel Rückschritte nicht wollen kann, ist klar – als mächtige Frau sowieso nicht, wäre sie doch ohne diesen Fortschritt nicht in der Position, in der sie ist. Auch das ist etwas, was Linke immer mal wieder mit ihr sympathisieren lassen und was Frauen unabhängig von der politischen Haltung solidarisch sein lässt. Merkel ist trotz allem ein Symbol für den gesellschaftlichen Fortschritt, auch hier eine Ikone der westlichen Zivilisation und ihrer vermeintlichen Überlegenheit. Dabei offenbart sich aber ein fundamentales Problem, das sich auch deutlich im Wahlkampf zwischen Hillary Clinton und Donald Trump zeigt: Die Gegner der mächtigen Frauen entblöden sich nicht, ihre Kritik so unanständig und frauenfeindlich zu formulieren, dass Politikerinnen wie Merkel plötzlich modern und fortschrittlich wirken, einfach nur, weil ihre Gegner unzivilisiert und rückständig daherkommen. In diesem Licht lässt sich dann jede Politik durchsetzen, egal wie rückschrittlich, konservativ oder bürgerlich sie ist.