In Tunesien drohen soziale Konflikte

Viel Streit im Sumpf

Die tunesische Regierung hat es nicht leicht. Die Wirtschaftslage ist schlecht, wegen des Haushaltsplans drohen soziale Konflikte, doch internationale Geldgeber drängen auf weitere Kürzungen.

Der umzäunte Platz vor dem Justizministerium in Tunis ist brechend voll am Freitag voriger Woche. Hunderte von Menschen, viele in Roben, stehen gedrängt vor den Stufen des Gebäudes und lauschen der Kundgebung, zu der der Nationale Anwaltsverein aufgerufen hat. An diesem Tag haben die meisten der mehr als 7 000 Anwälte Tunesiens die Arbeit niedergelegt, was sie vollmundig als »Generalstreik« bezeichnen. Sie protestieren gegen eine Regelung im geplanten Haushaltsgesetz für 2017, die ihnen neue Steuern auferlegen will, und drohen mit »fiskalischem Ungehorsam«, sollte die Regierung nicht auf ihre Forderungen und Vorschläge eingehen. Bislang zahlen sie eine Steuerpauschale, die auf ­einer nicht überprüften Selbsteinschätzung beruht.
In der Vorwoche hatte der Ministerrat das geplante Haushaltsgesetz für 2017 vorgestellt, es muss noch das Parlament, die Versammlung der Volksvertreter (ARP), passieren. Es wird die erste Belastungsprobe für die Regierung unter Ministerpräsident Youssef Chahed, die seit Anfang September amtiert. Mit 41 Jahren ist er der jüngste der bislang sieben Ministerpräsident im postrevolutionären Tunesien. Er bezeichnet sich selbst als sozialliberal und ist seit September 2013 Mitglied der Partei Nida Tounès, aus deren Reihen auch der 89jährige Präsident Béji Caïd Essebsi stammt. Die neue Regierung versteht sich als eine der »nationalen Einheit« – sechs Parteien inklusive der islamistischen al-Nahda stellen in ihr Minister – und will in Kooperation mit dem mächtigen Gewerkschaftsverband UGTT und dem Unternehmerverband Utica gegen die anhaltende Wirtschafts- und Finanzkrise in Tunesien vorgehen – woran bereits die vor­herigen Regierungen scheiterten. »Wir haben kein Recht auf Irrtum mehr und müssen Tunesien aus dem wirtschaftlichen Sumpf ziehen«, sagte Chahed kürzlich, »alle Welt ist sich dessen bewusst«.
Bewusst sind sich dessen viele, die aber deshalb noch lange nicht bereit sind, die eigenen Interessen für die »nationale Einheit« aufzugeben. Kaum war der Haushaltsplan der Regierung für 2017 vorgestellt, der die klamme Staatskasse entlasten soll, eröffnete das oppositionelle linke Parteienbündnis Front populaire (FP), das 15 der insgesamt 217 Abgeordneten in der ARP stellt, den Reigen der Proteste dagegen. Am vorvergangenen Samstag kritisierte Hamma Hammami, der prominente Sprecher des FP, auf einer Kundgebung vor dem Stadttheater von ­Tunis vor etwa 200 Anhängern den »Sparhaushalt« der Regierung, der aus den Diktaten internationaler Institutionen, insbesondere des Inter­nationalen Währungsfonds (IWF), resultiere, während die wirklichen wirtschaftlichen Übel dem Schmuggel und der Steuerflucht geschuldet seien. Anfang vergangener Woche wandte sich der Gewerkschaftsverband UGTT in ­einer scharf formulierten Erklärung gegen die Regelung im Haushaltsplan, der zufolge es im kommenden Jahr nur dann Lohnerhöhungen im öffentlichen Dienst geben soll, wenn das Wirtschaftswachstum mindestens drei Prozent beträgt; im Haushaltsplan werden 2,5 Prozent für 2017 prognostiziert. Der Unternehmerverband Utica kritisiert eine Sonderabgabe von 7,5 Prozent der Einnahmen insbesondere für Exportbetriebe. Bei den Freiberuflern haben die Zahnärzte angedroht, dem Beispiel der Anwälte zu folgen.
Die Regierung befindet sich sozusagen zwischen Hammer und Amboss. Wegen des Haushaltsplans drohen schwere soziale Konflikte, andererseits drängen die internationalen Geldgeber darauf, das Haushaltsdefizit zu verringern. Am 20. Mai hatte der IWF die Finanzierungsvereinbarung im Rahmen der erweiterten Fondsfazilität (EFF) für Tunesien verlängert und weitere 2,9 Milliarden Dollar bis 2020 bewilligt, aber dem jüngsten Bericht des Arabischen Instituts der Unternehmenschefs zufolge dienen allein 1,7 Milliarden Dollar davon zur Tilgung des vorherigen Stand-by-Kredits, der die Liquidität des Landes sicherte. Eine erste Tranche des neuen Kredits in Höhe von 319,5 Millionen Dollar wurde freigegeben, aber die zweite Tranche in gleicher Höhe steht aus. Ihre Freigabe wird von der Reduzierung des Staats­defizits abhängig gemacht, inbesondere durch Einsparungen bei den Personalausgaben, die etwa 14 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) ausmachen. Die Geldgeber setzten Tunesien unter einen »unerträglichen Druck«, stöhnte ein Repräsentant der tunesischen Zentralbank nach einem Treffen mit IWF-Verantwortlichen anlässlich der Jahresversammlung des Fonds in Washington am 8. und 9. Oktober.
Zwar beschloss der EU-Rat für Außenbeziehungen am 17. Oktober, die Finanzhilfe für Tunesien im kommenden Jahr zu verdoppeln. Dem nordafrikanischen Land sollen somit 2017 bis zu 300 Millionen Euro zur Verfügung stehen. Aber das ist nur ein Tropfen auf dem heißen Stein.
In den fast sechs turbulenten Jahren nach dem Sturz des autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali im Januar 2011 wurde die Wirtschaft Tunesiens schwer in Mitleidenschaft gezogen. Das Kapital liebt keine Instabilität, diese aber ist eine unvermeidliche Folge der politischen Revolution, die in Tunesien stattgefunden hat. Anfang Oktober prognostizierte der IWF für das laufende Jahr ein Wirtschaftswachstum in Tunesien von 1,5 Prozent, 0,5 Prozentpunkte weniger als noch im April vorher­gesagt, eine Inflationsrate in Höhe von 3,7 Prozent und ein Leistungsbilanzdefizit von acht Prozent des BIP. Die Arbeitslosenrate liegt landesweit bei 15,6 Prozent, in den vernachlässigten Landesteilen insbesondere im Süden ist sie fast doppelt so hoch. Im vergangenen Jahr haben zudem jihadistische Anschläge, bei denen etwa 60 Urlauber getötet wurden, den Tourismus fast zum Erliegen gebracht. Im Staatsapparat hat sich Korruption breitgemacht, die nach Schätzungen des tunesischen Wirtschaftsblatts Réalités jährlich bis zu zwei Prozent Wirtschaftswachstum kostet.
Die informelle Ökonomie, insbesondere der Schmuggel an den Grenzen, umfasst schätzungsweise 40 Prozent des BIP. In ihr sollen eine Million Personen beschäftigt sein, während sie lediglich drei Prozent der Steuereinnahmen einbringt. Im Hinblick darauf konstatierte der Ökonom Abdeljelil Bedoui, der lange Zeit als Berater der Leitung der UGTT fungierte und Gründungsmitglied der Tunesischen Föderation für wirtschaftliche und ­soziale Rechte (FTDES) ist, jüngst im Interview mit Le Monde einen Funktionswechsel: Der informelle Sektor sei vom Staat unter Ben Ali domestiziert und instrumentalisiert worden, um den Druck auf den Arbeitsmarkt zu vermindern, und der Staat habe ihn dann reguliert, um die etablierten Interessen zu schützen. Kurz, dem Staat sei es gelungen, den informellen Sektor ­unter Kontrolle zu halten. Nun sei es umgekehrt. Der Staat könne ihn nicht mehr regulieren und werde vom informellen Sektor instrumentalisiert.
Symptomatisch für die gegenwärtige Situation sind auch die Auseinandersetzungen im Minenbecken von Gafsa, ungefähr 350 Kilometer südlich von Tunis gelegen, wo die Compagnie des Phosphates de Gafsa (CPG) Phosphat fördert, das in dem Schwesterunternehmen Groupe chimique vor allem zu Dünger weiterverarbeitet wird – beides wichtige Exportprodukte. Der FTDES zufolge gäbe es bei den sozialen Kämpfen im Minenbecken eine Besonderheit, einen »sozialen Vulkan, der jeden Moment ausbrechen kann«, wie es Firas Hamda, ein lokaler Koordinator der Union der ­diplomierten Arbeitslosen, ausdrückte. Die in der UGTT organisierten Arbeiter streikten kaum, es seien eher die »außerhalb des Systems«, Erwerbslose, die Produktionsstätten oder die Eisenbahnlinie blockierten, in der Hoffnung auf einen Arbeitsplatz in der CPG oder der Groupe chimique. Das Resultat, so die FTDES: CPG und Groupe chimique seien gezwungen, »gegen jede wirtschaftliche Logik« Einstellungen vorzunehmen, oft über ­periphere Strukturen wie Umweltunternehmen, die die Produktion nicht erhöhen, aber den sozialen Druck vermindern. Seit 2011 sei deshalb die Anzahl der Lohnabhängigen bei CPG, Groupe chimique und ihren Satellitenunternehmen von 9 000 auf 27 000 angewachsen, während die Phosphatproduktion von acht Millionen Tonnen pro Jahr auf 3,5 Millionen gefallen sei.
Die Landschaft werde bereits von zahllosen sozialen Konflikten dominiert, sagt Abdeljelil Bédoui, sie dürften sich mit der durch den Haushaltsplan für 2017 angekündigten Austeritätspolitik vertiefen. Einige der Proteste seien im Wesentlichen von Nichtorganisierten getragen, was es kompliziert mache, sie mittels »sozialem Dialog« zu entschärfen. Sie tendierten dazu, unvorhersehbarer zu werden, gewalttätiger, kostspieliger.
Wie um diese Worte zu unterstreichen, verübten vorige Woche 36 Teilnehmer eines Sit-ins in Kasserine, der Hauptstadt des gleichnamigen armen Gouvernement im Südwesten des Landes, nach Angaben der alternativen Website Nawaat einen spektakulären kollektiven Selbstmordversuch, indem sie große Mengen Medikamente schluckten. Der Grund dafür: Die Regierung habe ihr Versprechen, Einstellungen vorzunehmen, nicht gehalten. Sie überlebten, eine Frau scheint noch im kritischen Zustand im Krankenhaus zu liegen.