nationalistische Stimmungsmache in Ungarn

Antisowjetisches Gedenken

Alle großen Parteien in Ungarn nutzen den 60. Jahrestag des Aufstands zur nationalistischen Stimmungsmache. Sie warnen vor der Rückkehr der Sowjetunion – wobei jede Partei etwas anderes darunter versteht.

Medienwirksam haben alle großen Parteien in Ungarn den 60. Jahrestag des »Ungarischen Volksaufstands« auf ihre eigene Art gefeiert. Ab dem 23. Oktober 1956 hatten sich viele Ungarn zunächst friedlich, später auch bewaffnet, gegen die Machthaber erhoben. Der Aufstand wurde durch sowjetische Truppen blutig niedergeschlagen.
So unterschiedlich die Interpretation der historischen Ereignisse auch sein mag – ob es nun ein Aufstand für westliche Demokratie oder einen Sozialismus anderer Art war –, zwei Themen einte die Parteien: Alle fanden in der derzeitigen politischen Konstellation ihre »neue Sowjetunion« wieder und alle beschworen die nationale Einheit.
Ministerpräsident Viktor Orbán zufolge zog sich der »Sowjetkommunismus« 1956 eine »Narbe zu, von der er sich nicht mehr erholen konnte«. Zudem erkannte Orbán eine Parallele zur derzeitigen Lage und warnte vor der »Sowjetisierung« der EU, den »Vereinigten Staaten von Europa« und vor allen Kräften, die anderen vorschrieben, »wie und mit wem man zusammen in seiner Heimat zu leben habe«. Damals wie heute seien es die »heimatliebenden« und »freiheitsliebenden« Ungarn gewesen, die sich der Diktatur entgegenstellten und die heutzutage »die Grenzen schließen müssen, um die von Süden hereinbrechende Völkerwanderung aufzuhalten«. In seiner Rhetorik blieb er auch dieses Mal der Vision von einem »Europa der starken und souveränen Vaterländer« treu.
Orbáns Rede zum Gedenktag wurde von vielen Protestierenden mit Trillerpfeifen gestört, so dass er sie mehrfach unterbrechen musste. Dabei wurden die Regierungsgegner tätlich aus der Menge heraus angegriffen, die sich zu den Gedenkfeierlichkeiten in Budapest versammelt hatte. Einigkeit herrschte jedoch wieder, als zum Ende der Veranstaltung die ungarische Nationalhymne erklang und selbst einige Regierungsgegner ihre Mitstreiter zur Ruhe aufforderten.
Das links von der Regierung stehende Oppositionsbündnis, bestehend aus Sozialisten (MSZP), der Demokratischen Koalition um den ehemaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány, die sich 2011 von der MSZP abgespalten hatte, und einer wachsenden Zahl politischer Parteien und Gruppen, sieht die nationale Einheit, die während des Volksaufstands geherrscht habe, derzeit hingegen durch die Regierung der rechtskonservativen Partei Fidesz und der christlich-demokratischen KDNP gefährdet. Diese Allianz sei keine Regierung »der Mehrheit mehr, sondern eine der Minderheit«, sagten Teilnehmer der Veranstaltung. Hieraus leitet sich die Sowjetanalogie des Oppositionsbündnisses ab. »Die heutige ungarische Regierung bekämpft die Freiheit, wie es die damalige stalinistische Diktatur tat. Genauso möchte sie die Presse- und die Meinungsfreiheit kontrollieren«, sagte Ágnes Kunhalmi von den Sozialisten. Durch die nationale Einheit müsse das Land vor der Diktatur der Regierung, dem »Orbánismus«, gerettet und die Demokratie wiederhergestellt werden. Diese »nationale Einheit« soll im Zweifelsfall so umfassend sein, dass Gergely Karácsony, der Bürgermeister des Budapester Stadtteils Zugló und Vorsitzender der am Bündnis beteiligten Partei »Dialog für Ungarn«, auch mit »rechten Demokraten« zusammenarbeiten würde, um die Regierung abzulösen, denn »wer die Demokratie abbaut, verkauft die Nation«.
Auch Mitglieder der MSZP hatten keine Hemmungen, zusammen mit Mitgliedern der rechtsextremen Partei Jobbik Kränze für die Gefallenen des Aufstands niederzulegen. So verwundert es nicht, dass auch auf der Gedenkveranstaltung von Jobbik der Begriff »Orbánismus« verwendet wurde. Der Parteivorsitzende Gábor Vona sieht Orbán in einer Reihe mit dem nach dem Aufstand regierenden Generalsekretär János Kádár.
Doch nicht nur der Helden des Aufstands von 1956 wurde hier gedacht, sondern auch der Teilnehmer der Straßenschlachten des Jahres 2006. Damals kam es zu schweren Krawallen in Budapest, nachdem ein Tonbandpro­tokoll des damaligen sozialistischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány veröffentlicht worden war, in dem es hieß, dass er die Wähler über die schlechte wirtschaftliche Lage des Landes belogen habe. Demonstrierende setzten Autos in Brand und besetzten für kurze Zeit die Sendezentrale des Staatsfernsehens. Auch damals sahen sich die Demonstrierenden als Nachfolger der Aufständischen von 1956, da sich »patriotische Ungarn« gegen eine sie belügende sozialistische Regierung erhoben.
So fungiert der Aufstand von 1956 weiterhin als Vehikel für patriotische Kampfbekundungen und dies, wie das Gedenken in diesem Jahr deutlich zeigte, auch über alle Parteigrenzen hinweg.