Antisemitismus bei den »Reichsbürgern«

Die antideutsche Weltverschwörung

Seit dem 19. Oktober wird in Deutschland eingehender über sogenannte »Reichsbürger« berichtet. Wolfgang P. schoss an diesem Tag auf mehrere Polizisten des SEK. Ein Beamter erlag am folgenden Tag seinen Verletzungen. Zentral für die Reichsbürgerideologie sind antisemitische Verschwörungsmythen.

Vielerorts wird geschrieben, dass »Reichsbürger« die Bundesrepublik Deutschland nicht anerkennen und von der Fortexistenz des Deutsches Reichs in den Grenzen von 1937 ausgingen. Diese Kategorisierung erfasst jedoch nicht den Kern der Ideologie. Sie beruht vielmehr auf einer gesellschaftlich anschlussfähigen und antisemi­tischen Erzählung, derzufolge es seit langem eine Weltverschwörung gegen die Deutschen gäbe.
Rechtsextreme Kampagnen zur Wiederherstellung des Deutschen Reichs gibt es seit dem Sieg der Alliierten über Deutschland. Der Politikwissenschaftler Richard Stöss bescheinigt dieser Kampagne im Bereich des organisierten deutschen Rechtsextremismus ab den achtziger Jahren jedoch eine nachrangige Stellung. Die »Überfremdungs«- und Antiglobalisierungskampagne sind seither die Themen der Szene. Die Ernennung des Holocaust-Leugners Manfred Roeder zum »Reichsverweser« im Jahr 1975 bildete einen ersten Versuch des organisierten Rechtsextremismus, die Handlungsfähigkeit des »Dritten Reichs« wiederherzustellen. Während sich Roeder Ende der siebziger Jahre für Terror und Untergrund entschied, kamen mit Wolfgang Gerhard Günter Ebel ab den achtziger Jahren erste Ideen auf, eigene Reichsregierungen ohne unmittelbaren Bezug zum Nationalsozialismus zu gründen. Diesen Vorstellungen hängen auch diejenigen »Reichsbürger« an, die seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts verstärkt von sich reden machen. Sie beklagen nicht nur eine Handlungsunfähigkeit ihres Deutschen Reichs – die Grenzen und Staatsformen hängen dabei von den persönlichen Vorlieben der Beteiligten ab –, sondern wollen diese höchstpersönlich wiederherstellen.
In der Vergangenheit wurden diese sehr heterogenen Gruppen und Einzelpersonen hauptsächlich von Juristen und Verfassungsschützern beobachtet. Sie rechneten nur einen kleinen Teil dieses Milieus dem deutschen Rechtsextremismus zu und taten ihr Handeln hauptsächlich als Spinnerei, Querulantentum und Geschäftemacherei ab. Sie definierten als Kernelemente der »Reichsbürger«-Ideologie die Existenzleugnung der Bundesrepublik und die Wiederherstellung des Deutschen Reichs. Doch bereits die Formulierung der ersten Grundannahme bringt erkenntnistheoretische Probleme mit sich.
Dabei begreift die Definition als »Staatsleugner« die Phänomene zunächst umfassender als der Begriff »Reichsbürger«. Erstere umfasst nicht nur die reichsaffinen Rechtsextremen seit Gründung der Bundesrepublik Deutschland und die unzähligen »Reichsregierungen« seit den achtziger Jahren, sondern ebenso die sogenannten »Selbstverwalter« ohne unmittelbaren Reichsbezug. Sie teilen mit den »Reichsbürgern« lediglich die erste Grundannahme sowie die daraus abgeleiteten vermeintlichen Argumente. »Selbstverwalter« wollen nicht die Handlungsfähigkeit eines Deutschen Reichs wiederherstellen, sondern erklären sich frei von staatlicher Kontrolle, stellen sich unter Selbstverwaltung oder gründen eigene Staaten. Ihre Ideologie ist stärker durchsetzt mit radikalindividualistischen und libertären Versatzstücken. Zwischen »Reichsbürgern« und »Selbstverwaltern« besteht nicht immer eine klare Grenze. Adrian U., der am 25. August bei einer Zwangsvollstreckung im sachsen-anhaltinischen Reuden auf Beamte des SEK schoss, gründete seinen eigenen Staat »Ur«. Im Staatswappen griff er die Farben Schwarz-Weiß-Rot wieder auf. Auch Wolfgang P. ist dieser Strömung innerhalb des Milieus zuzuordnen. Nach bisherigen Erkenntnissen glaubte er nicht, ein Amt in einem Deutschen Reich auszuüben, sondern sich durch eine sogenannte »Lebenderklärung« und das Entwerfen eines Familienwappens von der Bundesrepublik losgesagt zu haben.
Die Fokussierung auf die Leugnung der Bundesrepublik stellt die Analyse der Grundannahmen dieser Ideologie in den Hintergrund. Diese Leugnung ist nur die Konsequenz aus der Imaginierung einer Weltverschwörung gegen die Deutschen. Dabei handelt es sich um eine Form von antisemitischer Umwegkommunikation. Mögen einige der Überzeugung sein, dass wirklich die USA oder eine kleine Gruppe interreligiöser Eliten im Verborgenen die Neue Weltordnung (NWO) durchsetzen wollen, so basieren moderne Weltverschwörungserzählungen meist auf der antisemitischen Fiktion der »Protokolle der Weisen von Zion«. Die vermeintlichen Protokolle vereinen antijudaistische Stereotype mit denen des modernen Antise­mitismus. »Die Juden« werden seit Jahrhunderten als Verschwörer gegen Christentum und Volk imaginiert: Ihnen wird unterstellt, zum Zwecke des Machterwerbs und -erhalts zu töten und zu vergiften. Sie werden für Liberalismus, Kommunismus und Menschenrechte sowie die großen Revolutionen, Kriege und Naturkatas­trophen verantwortlich gemacht. Diese den Weltverschwörern zugeschriebenen Eigenschaften sind im tradierten Judenbild bereits angelegt. Auf diese Weise können Weltverschwörungserzählungen in letzter Instanz stets »die Juden« als Verantwortliche benennen.
Antisemitische Verschwörungsmythen sind also nicht nur ein Versuch der Rationalisierung und Personifizierung von Herrschaftsverhältnissen in bürgerlichen Gesellschaften. Sie geben im irrationalen Anteil ihren Anhängerinnen und Anhängern eine Identität. Im Prozess der Identitätsbildung werden nicht nur gesellschaftliche Widersprüche und Zumutungen abgespalten und auf die »Bösen« projiziert, sondern auch eigene nicht-eingestandene Triebimpulse. Die »Studien zum auto­ritären Charakter« haben auf den Zusammenhang des Mechanismus der Projektivität mit einer Verschwörungsmentalität hingewiesen. Antisemitische Verschwörungsmythen geben ihren Anhängerinnen und Anhängern eine Identität als betrogene Deutsche und ermöglichen eine Personifizierung des Bösen und seiner Handlangerinnen und Handlanger als »Volksverräter« und »Lügenpresse«.
Der Göttinger Politikwissenschaftler Samuel Salzborn sieht im Anschluss an Stöss’ historisch-programmatische Geschichte des Rechtsextremismus seit dem 11. September 2001 eine besondere Verschwörungskampagne am Werk. Der derzeit wirksame Mythos einer antideutschen Weltverschwörung greift deren Überlegungen auf. Er bietet den ideologischen Kitt für Bündnisse über das Milieu der »Reichsbürger« und »Selbstverwalter« hinaus. Wolfgang P. teilte auf Facebook öffentlich ein Bild, auf dem »antideutsche US-Besatzer« als Verschwörer genannt werden. Adrian U. betreibt eine Website, die sich dem Kampf gegen die NWO widmet. Der verschwörungsideologischen Projektion bietet auch die AfD Raum. In ­ihrem Grundsatzprogramm heißt es, eine kleine, machtvolle politische Führungsgruppe innerhalb der Parteien, der »heimliche Souverän«, sei es, der »die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte zu verantworten« habe. Aber auch Teile der linken Szene betrachten Deutschland als »US-Kolonie« und seine Einwohnerinnen und Einwohner als Entrechtete.
In der derzeitigen Auseinandersetzung um »Reichsbürger« werden die zentralen antisemitischen Verschwörungsmythen als sekundär abgetan. Das Milieu der »Reichsbürger« und »Selbstverwalter« wird durch den vermeintlich notwendigen Bezug auf ein Deutsches Reich exotisiert und externalisiert. Die wahnhafte Haltung Einzelner kann jedoch von der gesamtgesellschaftlichen Dimension nicht entkoppelt werden. Es zeigt sich, dass der Mythos der antideutschen Weltverschwörung nicht nur gesellschaftlich an­schlussfähig ist. Er motiviert Menschen zur Gewalt gegen die vermeint­lichen Verschwörerinnen und Verschwörer: Der Galgen für »Volksverräter« droht allen, die als Feinde des deutschen Volkes wahrgenommen werden.