Eine Liebeserklärung an das Mixtape

Richtig hinhören

Die Rückkehr der Musikkassette und des Mixtapes bringt wieder mehr Qualität ins Musikhören.

Für den kleinen Jungen, der als Speichermedium nur Papas Tonband kannte, war der erste eigene Kassettenrekorder der ultimative heiße Scheiß. Freiheit! Selbst aufnehmen! WDR, BFBS, Alan Bangs, John Peel. »Alle mal leise sein, ich darf den Anfang nicht verpassen!« Plötzlich war ich nicht mehr nur Zuhörer, sondern aktiver Erforscher dieser unendlichen Weiten unentdeckter Musik. Mit dem Kassettenrekorder, später mit dem Radiorekorder, wurde das Radio für mich ein verheißungsvolles Medium, das ich Stück für Stück in meine Welt holen, festhalten und dort bewahren konnte.
Das geschah vor allem durch holländische Raffinesse. Denn Philips hatte die Musikkassette erfunden, und irgendwann gab es auch überspielbare Exemplare; und zwar extra für mich, wie mir klar war. Atemlos jagte ich nach dem Besten und ganz Besonderen, was die ätherische Radio- und die materielle Vinylmusikwelt bereithielt. Mitschneiden, kopieren (»kannst du mir die LP mal aufnehmen?«), kom­binieren, zunächst eher planlos, später gestaltender und choreographierender. Persönliche Mixtapes erstellte ich für jeden Zweck: Lieblingssongs, Partymusik, Reisetracks, Liebeserklärungen. Die aufgenommenen Kassetten entwuchsen schon bald ihrem kreativen Versuchsstadium und entwickelten sich zu einer eigenen, multifunktionalen Hör- und Ausdrucksform. Sie waren erschwinglich, simpel, transpor­tabel, überspielbar – und hatten eine Hülle, die förmlich nach Verschönerung schrie. Keine Woche verging ohne neue Mixtapes, die ersten entstanden eher ungeplant beim hastigen Mitschneiden oder Kopieren, spätere waren ruhiger und geplanter, und besondere auch mit großem Zeitaufwand verbunden, wenn die Angebetete eine ganz spezielle Zusammenstellung von Songs zu verdienen schien, meistens ungefragt.
»Mixkassetten sind eine Kreuzung aus Liebeserklärung, Selbstdarstellung und Belehrung«, schrieb die Medienwissenschaftlerin Katharina Schaack. Entscheidend ist es, das Werk am Stück zu hören. Am besten ohne Pause, ohne Vorspulen, also 60, oft 90 Minuten – wie bei einem Film, einer Radiosendung oder einem Theaterstück. Das erforderte Geduld beim Hören, ein Würdigen der liebevollen Arbeit, aber auch der inneren Logik eines Mixtapes, des spezifischen Antwortens der Songs aufeinander. Form, Inhalt und Botschaft des verschenkten Freundschafts- oder Liebestapes sollten respektiert, möglichst goutiert werden. Die Königsdisziplin: Sie verlangte Kunst auf beiden Seiten. Formale Eleganz, zugleich verständliche, aber nicht zu plumpe Sinnbezüge mussten beim Kompilieren der Songs beachtet werden. Auf der hörenden Seite erforderte es wiederum die Bereitschaft und Fähigkeit, Songfolgen abzuwarten, eine Akzeptanz der Hierarchie, die darin liegt, am Ablauf, der genau so gewollt war, nichts ändern zu können, ihn aber zu verstehen und zu genießen. Anderthalb Stunden aufmerksames Zuhören ohne Multitasking, ohne Nebenbeschäftigung. Diejenigen, die schon mal einen oder mehrere Abende in so ein Mixtape gesteckt haben erhoffen sich ungeteilte Aufmerksamkeit, vielleicht auch etwas von der Hingabe, mit der das Band der Liebe erstellt wurde. Dass das zwar nicht immer funktionierte, aber doch sehr oft und mit viel Spaß genau so geschah, nämlich das ganze (Sekundär-)Kunstwerk in einem Stück zu hören, mutet heutzutage anstrengend an. Kam uns damals aber nicht so vor. Um das Herzblut und die Hingabe im Mixtape zu wissen und dies durch die Hörpraxis zu reflektieren und zu respektieren, fiel uns nicht schwer, es war unsere Hörgewohnheit. Mit Random-Funktion und Manipulierbarkeit der digitalen Speicherinhalte versaue ich mir diese Fähigkeit allmählich. Meine Aufmerksamkeitsspanne sinkt, ich multitaske mich blöd. Die Fülle an musikalischer Information, ihre Kontingenz und vor allem die Partikularität und Multioptionalität der Informationsmodule und ihrer Reihenfolge ermöglichen eine andere Art der Rezeption: hektisch und permanent unzufrieden, immer »vorspulend«. Der Wegfall der analogen chronologischen Determiniertheit in der Rezeption ist ein Verlust. Ich sollte wieder mehr Mixtapes hören. Kein ironischer Retro-Hipsterquatsch, ich möchte einfach wieder zuhören lernen. Denn das lässt die Musikkassette zu wie kein anderesMedium sonst.