Filmen auf der Flucht. Der Film »Les sauteurs«

Ich filme, also bin ich

Um authentische Eindrücke vom Leben am Grenzzaun zu liefern, haben Flüchtlinge in »Les sauteurs« selbst die Kameraführung übernommen.

Das Wärmebild einer Überwachungskamera zeigt graue, wolkenartige ­Gebilde. Sie schwenkt, zoomt, justiert, schwenkt weiter, schließlich nimmt sie kleine, weiße, sich bewegende Punkte ins Visier. Die abstrakte, anonyme Bildordnung wechselt unvermittelt zu radikaler Subjektivität. Man ist plötzlich mittendrin: Dämmerlicht, die Silhouette eines Gebüschs, dahinter Lichter, ein Stück Himmel. Beine, Schuhe, Kakteenbäume, teilweise in extremen Close-ups, kommen ins verwackelte Bild, man hört Grillengezirpe. Die Stimmung ist ­angespannt, aus der Dunkelheit fragt jemand: »Hast du Angst?«
In »Les sauteurs« (Die Springer) werden die beiden visuellen Dispositive – kalt registrierende Filmbilder versus subjektive Perspektiven – immer wieder miteinander konfrontiert: in totaler Unverträglichkeit, aber auch als unauflösbarer Zusammenhang. Um Bildgestaltung geht es zunächst auch nicht bei den Hand­kameraaufnahmen. Die Kamera ist anfangs reines Aufzeichnungs­instrument, das von einer existentiellen Situation zeugt.
Der Mann hinter der Kamera ist kein Filmemacher. Er heißt Abou Bakar Sidibé und ist aus Mali geflohen. Mit anderen Flüchtlingen, die meisten von ihnen aus der Subsahara-Region, harrt er nun schon 15 Monate in den Wäldern des Monte Gurugú aus, dem »heiligen, göttlichen Berg«, wie er ihn einmal beschwörend nennt. Der Gurugú, von dem aus man direkt auf die spanische Exklave Melilla an der nordafrikanischen Mittelmeerküste blicken kann, sei »Hoffnung und Verzweiflung, Leben und Tod«, sagt Sidibé aus dem Off. Schon mehrfach ist er beim Versuch gescheitert, die hochgesicherte Grenzanlage zu überwinden. Sein Bruder hat es geschafft, von Valencia aus macht er ihm Mut. Viele der Flüchtlinge aber geben irgendwann zermürbt auf und kehren in ihre Herkunftsländer zurück. Ein Freund Sidibés wird im Laufe des Films sein Leben am Zaun verlieren.
Die Kamera hat Sidibé von den beiden Filmemachern Moritz Siebert und Estephan Wagner bekommen. Sie lernten den jungen Mann in dem improvisierten Camp in Marokko kennen. In »Les sauteurs« sind sie vor ­allem als Cutter und Redakteure tätig, die das Material in eine erzählerische Form bringen. Für Sidibé ist der Auftrag, sein Leben zu filmen, zunächst auch ein Geschäft. Er bekommt Geld dafür, dass er seinen Alltag zwischen dem Ausharren und dem Sprung – wie der Versuch genannt wird, die Grenzschutzanlagen zu überwinden – mit der Kamera festhält. Und auch dafür, dass er die Kamera nicht gleich wieder verkauft.
»Ich filme einfach die Leute. Auch wenn es nichts zu sehen gibt«, sagt Sidibé am Anfang. Die Kamera zeigt das notdürftige Lager in den Wäldern des Bergausläufers, das in regelmäßigen Abständen von der marokkanischen Polizei gestürmt und zerstört wird. Decken liegen auf dem Boden, Kleidungsstücke hängen an den Bäumen, aus Plastikplanen wurden provisorisch einige Zelte errichtet, an einer Feuerstelle kocht ein Mann Kartoffeln, ein anderer verkauft Speiseöl und füllt es in Flaschen ab. Gelegentlich suchen die Männer auch in den Mülleimern des nächstgele­genen Orts nach Essbarem. Wie sich die Flüchtlinge ansonsten mit ­Lebensmitteln versorgen, verrät der Film indes nicht.
Es existiert im Lager, das wird relativ schnell klar, so etwas wie eine funktionierende Infrastruktur – »der Händler war Arzt, der Arzt Händler« – und eine Verwaltung mit einem »Präsidenten« und »Ministern«. Sie bilden die Gerichtsbarkeit und organisieren die Sprünge. Man sieht diese ausschnitthaft auch auf Bildern, die aus einer Überwachungskamera stammen könnten: als sich formierende Gebilde, die sich plötzlich wie Wellen in Bewegung setzen. Dem Ansturm auf die insgesamt drei Zäune gehen lange Vorbereitungsphasen vor­aus, dazu gehören etwa das Prä­parieren der Schuhe und viele nervenaufreibende Nächte des Auspähens am steilen Berghang, inmitten dichten Gestrüpps. Zahlenmäßig müssen die »Springer«, die sauteurs, den Grenzpolizisten beim Ansturm überlegen sein, meist tun sich einige Hundert zusammen. Für Unstimmigkeiten im Lager sorgt der amtierende »Präsident«. Er sei auf die nationalen Gemeinschaften fixiert, anstatt die Kräfte zu bündeln, heißt es.
Der Film bewegt sich im Spannungsfeld von Binnenperspektive und nüchterner Dokumentation, von ­Bewegung und Verharren. Warten ist die Hauptbeschäftigung im Camp. Nahezu alle Tätigkeiten scheinen dem Ziel untergeordnet, nach Europa zu gelangen, nur selten kommt es zu Momenten, die nur sich selbst genügen, wie etwa ein Fußballspiel zwischen Mali und der Elfenbeinküste; wer nicht mitspielt, übernimmt die Rolle des Trainers oder Fernsehkommen­tators.
»Les sauteurs« findet völlig andere Bilder für Flucht, Migration und Abschottungspolitik als die Nachrichtenkanäle. Aber auch von Dokumenta­tionen wie dem Berlinale-Gewinner »Fuocoammare« von Gianfranco Rosi grenzt sich der Film von Siebert, Wagner und Sidibé deutlich ab. Mit seiner Maxime, die Situation am Grenzzaun authentisch zu dokumentieren, bleibt »Les sauteurs« zwar ganz auf der Ebene der Repräsentation. Und selbstverständlich stellt sich die Frage, was es für das Vorhaben bedeutet hätte, wäre Sidibé beim »Sprung« nach Europa verunglückt – die Dokumentation seines eigenen Todes? Es geht bei diesem Cinéma vérité in der ersten Person jedoch um etwas sehr Grundlegendes: um die eigene Stimme, den eigenen Blick, die eigenen Bilder. Sidibé, der sich als »Europäer von morgen« vorstellt, hat kein Interesse an der Rolle des Opfers und Bittstellers: »Ich habe ein Recht, nach Europa zu kommen.«
Mehrfach ist von bösen Geistern auf dem Hügel die Rede, von Dämonen, die sich nachts einschleichen. Die Horden von Hunden, die im Lager herumstreunen, dienen dem Schutz, sie sollen die Geister verscheuchen. Es zirkulieren auch einige Mythen, die halb ernst, halb belustigt kommentiert werden: dass die Haut heller würde, sobald man in Europa ankomme; dass es eine Seife gäbe, die die Farbe abwasche; dass man bei der Ankunft von weißen Frauen gewaschen werde. Einmal zeichnet Sidibé einen Kreis mit Mehl auf den Boden, darin ein Herz mit den Buchstaben A und M – für Melilla. Dann schneidet er ­einem Hahn die Kehle durch und lässt das Blut über das Herz träufeln. Eher verstörend ist eine Szene, in der ein Mann als Verräter gestellt wird. Entgegen den strengen Regeln der Community hat er mit der marokkanischen Polizei gesprochen, darauf steht eine harte Strafe. Ein paar Männer wollen ihn schlagen, es gibt ein Gerangel. Der Mann wird schließlich aus dem Lager fortgejagt, einige rennen mit Stöcken bewaffnet hinter ihm her.
Die eigenen Produktionsbedingungen auszustellen, ist für den Film entscheidend und verleiht ihm ein selbstreflexives Moment. Nicht zuletzt dokumentiert »Les sauteurs« Sidibés Aneignung der Kamera und das Finden eines eigenen Blicks. Mehr und mehr findet er Gefallen am Filmen. Manchmal reicht er die Kamera weiter, um sich selbst als Protagonist in Szene zu setzen, dabei erteilt er genaue Anweisungen, wie er zu filmen und welcher Bildausschnitt zu wählen sei. Mit der Zeit werden die Bilder freier und mitunter erhaschen sie Augenblicke überraschender Schönheit – etwa wenn Sidibé die Kamera lange auf eine Gruppe durchs Lager galoppierender Esel richtet. Und wenn er sagt: »Ich spüre, dass ich existiere, weil ich filme.«
Les sauteurs (Dänemark 2016). Von Moritz Siebert, Estephan Wagner, Abou Bakar Sidibé. Filmstart: 17. November