Die reaktionären Proteste gegen den neuen Sexualkundelehrplan an hessischen Schulen

Vielfalt, nein danke

Gegen den neuen »Lehrplan Sexualerziehung« an hessischen Schulen hat sich ein Bündnis von CDU- und AfD-Anhängern, christlichen Fundamentalisten und Neonazis gebildet. Es will ein konservativ-reaktionäres Familien- und Geschlechterbild verteidigen.

Umgeben von pinken und blauen Luftballons demonstrierten am 30. Oktober knapp 2 000 Menschen in Wiesbaden gegen die Modernisierung des ­Sexualkundelehrplans an hessischen Schulen. Veranstaltet wurde der Protest von »Demo für alle«, einem Bündnis verschiedener Familienorganisa­tionen, das der Selbstbeschreibung zufolge »für Ehe und Familie, auf die unsere Gesellschaft seit Jahrtausenden gründet«, eintritt und sich »gegen die alles durchdringenden Umerziehungsversuche gut organisierter Lobbygruppen und Ideologen« wendet. »Indoktrinierende Sexualerziehung«, »Homo-Lobby« und »Genderterror« stand auf den Schildern und Transparenten der Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmer.
»Demo für alle« richtet sich gegen den neuen »Lehrplan Sexualerziehung«, den die schwarz-grüne Landesregierung in Hessen am Anfang des neuen Schuljahres beschlossen hatte. Darin wird ein »offenes, diskriminierungsfreies und wertschätzendes Verständnis für die Verschiedenheit und Vielfalt der partnerschaftlichen Beziehungen, ­sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten in unserer Gesellschaft« zum pädagogischen Ziel erklärt. Hierfür soll ein Schulklima ­geschaffen werden, »in dem Schülerinnen und Schüler erleben, dass Sexu­alität zum individuellen und gemeinschaftlichen Leben gehört und in an­gemessener Sprache offen besprochen werden« kann. Diverse Leitlinien und Schwerpunkte für verschiedene Altersgruppen wurden herausgearbeitet, vom Sichtbarmachen verschiedener Geschlechts-, Lebens- und Liebesentwürfe bis hin zur Unterstützung beim Coming-out und zu Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen.
Stefan Timmermanns, Professor für Sexualpädagogik und Diversität in der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Science, sagte der Jungle World, dass der Lehrplan trotz einzelner Lücken »sexuelle und geschlechtliche Vielfalt in einer größeren Bandbreite« zeige. Zur Einhaltung des Lehrplans sei eine sexualpädagogische Ausbildung der Lehrkräfte notwendig, »unter anderem auch, um die schwie­rige Lebenssituation von jugendlichen LGBTI* im Coming-out« zu erfassen und Diskriminierung bekämpfen zu können, so der Wissenschaftler.
Das Bündnis »Demo für alle« versteht sich als deutscher Ableger der französischen Bewegung »Manif pour tous«. Konservative Katholiken und Familienverbände hatten 2013 unter diesem Motto Massenproteste gegen die von der französischen Regierung beschlossene Öffnung der Ehe für Schwule und Lesben organisiert. Das viel kleinere deutsche Bündnis bringt zwar keine Massen auf die Straße, beansprucht aber für sich, die Mehrheit der Elternschaft in Deutschland zu vertreten und stellt sich entschieden gegen die Modernisierung der Bildungspläne. Als Sprecherin und Anmelderin in Deutschland tritt Hedwig von Beverfoerde auf, die Mitglied der CDU und Vorsitzende der »Initiative Familienschutz« ist. Vom LGBTI-Netzwerk »Enough is enough« wurde sie zur »Miss Homophobia 2015« gekürt. ­Sowohl bei den bisherigen Demons­trationen gegen den Bildungsplan der grün-roten Landesregierung in Baden-Württemberg als auch in Hessen wurde deutlich, dass sich die Klientel der »Demo für alle« vor allem aus konservativen, der CDU nahestehenden Personen zusammensetzt und bisweilen ins christlich-fundamentalistische Milieu reicht. Die AfD ruft ebenso zur Teilnahme an den Demonstrationen auf wie verschiedene neonazistische Kleinstparteien.
»Absurd und falsch« nennt Janine Wissler, die Vorsitzende der hessischen Landtagsfraktion der Linkspartei, die Behauptung, es gehe in dem Lehrplan um eine »Erziehung zu Sexualpraktiken«. Ihre Fraktion unterstützte den Lehrplan als richtigen Schritt, »Akzeptanz für Vielfalt und unterschiedliche Familien- und Lebensmodelle« zu schaffen. Zwar habe zunächst Skepsis von Seiten hessischer Elternbeiräte bestanden, viele hätten sich jedoch den Demonstrationen gegen die »Demo für alle« angeschlossen. Wissler sieht eine Mehrheit für den schwarz-grünen Lehrplan. Dass gerade die hessische CDU ihn auf den Weg bringt, überrascht Wissler nicht: »CDU-Mitglieder stimmen im Landtag für die Energiewende und Windräder, für den Lehrplan oder andere eher ›grüne‹ Themen und fahren dann in ihre Wahlkreise und wettern dagegen«, sagt sie der Jungle World.
Auch Führungsfiguren der Partei »Die Rechte« und der NPD beteiligten sich an der Demonstration. Die NPD suchte mit ihren Funktionären Stefan Jagsch und Daniel Lachmann in den vergangenen Monaten immer wieder die Nähe zum bürgerlich-rechten Milieu, zu Pegida in Frankfurt und zur AfD. Geduldet wurde sie bisher immer. So auch bei der »Demo für alle«.
Wie intensiv das Thema Sexualkundeunterricht die AfD beschäftigt, zeigten die Landtagsfraktionen der Partei am 14. November bei ihrer Versammlung in Magdeburg, wo die »Magdeburger Erklärung zur Frühsexualisierung« verabschiedet wurde. Darin wird als »Familie« die Verbindung aus Mann und Frau definiert, »aus der Kinder hervorgehen« und deren »naturgegebene Aufgabe« die Kindererziehung sei. In der Schulbildung solle »nicht Triebbefriedigung, sondern eine intakte Familie« als »primäres Lebensziel« vermittelt werden. Andere Konzepte von Familie, Sexualität und Zusammen­leben dürften der heterosexuellen Familie nicht als gleichwertig zur Seite gestellt werden. Angeregt wurde die Erklärung von verschiedenen Vertreterinnen und Vertretern des völkischen Flügels der Partei, sie wurde unterstützt von über 25 Abgeordneten. Unter ihnen sind André Poggenburg und Hans-Thomas Tillschneider, die seit einiger Zeit enge Kontakte zur Neuen Rechten und zum Querfrontmagazin Compact unterhalten. In der »Magdeburger Erklärung« ist somit ein Einfluss rechter, antifeministischer Milieus zu erkennen.
Vor allem in der verschwörungsideologischen Compact werden seit Jahren heterosexistische, homosexuellen- und transfeindliche Texte veröffentlicht, wichtige Funktionäre des organisierten Antifeminismus schreiben regelmäßig in dem Magazin und Chefredakteur Jürgen Elsässer warnte auf einer Demonstration von »besorgten Eltern« in Dresden bereits vor einer »Sexualisierung und Pornographisierung« in den Schulen, die durch »bestimmte Kreise« vorangetrieben würden.
Die »Magdeburger Erklärung« sei ein Rückschritt in die Tabuisierung von Sexualität und sexueller Vielfalt, sagt Timmermanns. Das Ziel sei es, Menschen eine »sexualfeindliche Einstellung« aufzuzwingen, in der Sexualität nur der Fortpflanzung diene und alle anderen Aspekte wie etwa Lust und Beziehung ausgeklammert würden. Dahinter stehe ein »konservatives Familienbild, das nur die intakte, heterosexuelle Familie kennt und diese über alle anderen stellt: Das ist Heterosexismus«, so der Wissenschaftler. Um eine »nationalistische und völkische Sicht« erweitere die »Magdeburger Erklärung« dieses Denken. »Für Alleinerziehende, Getrenntlebende, Kinder­lose, Familien mit zwei Müttern oder zwei Vätern sowie nicht völkisch denkende Eltern gibt es dort keinen Platz«, fasst Timmermanns zusammen.
Die inhaltlichen Übereinstimmungen mit den Verlautbarungen von Neonazis sind offensichtlich. Der Rückgriff auf die Biologisierung sozialer Verhältnisse wie Ehe und Partnerschaft, eint das konservative, der CDU nahestehende Milieu der »Demo für alle« mit Anhängern der AfD und Neonazis. Ihr Weltbild fußt auf einem naturalisierenden Blick auf die Gesellschaft und das Individuum, womit die »Demo für alle« wohlwollend eine Bühne für Nationalismus und Rassismus bereitstellt. Die »Magdeburger Erklärung« der AfD offenbart diese ideologischen Gemeinsamkeiten.
Die »Demo für alle« ist ein weiteres Anzeichen des Erstarkens antiemanzipatorischer Bewegungen in Europa. Während gerade der Rassismus rechts­populistischer Parteien – von der AfD über den französischen Front National bis zur polnischen PiS – derzeit deutlich wahrzunehmen ist, muss ihr Antifeminismus nicht als Randnotiz, sondern als zentraler Aspekt ihrer Ideologie gewertet werden. Am Beispiel der polnischen Regierungspartei zeigte sich erst kürzlich, dass diese Parteien und Bewegungen stark genug sind, kurz- und mittelfristig zentrale Errungenschaften an Minderheiten- und Reproduktionsrechten in Frage zu stellen. Ihre europaweiten Verbindungen und ihre Wahlerfolge sind angesichts der Gefahren für ein selbstbestimmtes Leben alarmierend.