im Gespräch mit Tony Norfield, Autor und ehemaliger Bankberater in London, über die Folgen eines britischen EU-Austritts

»Der nächste Schritt ist verstärkter Nationalismus«

Tony Norfield hat 20 Jahre lang als Berater für Banken in London gearbeitet. Sein in diesem Jahr erschienenes Buch »The City: London and the Global Power of Finance« wird intensiv diskutiert und ist für den »Deutscher Memorial Prize« nominiert. Norfield bloggt auf economicsofimperialism.blogspot.de

In Ihrem Buch »The City« beschreiben Sie die oft unterschätzte Bedeutung Londons im globalen Finanzsystem. Wie wird sich der EU-Austritt Großbritanniens darauf auswirken?
Der britische Finanzsektor wird nicht verschwinden. Dass er so groß ist, hat viele Gründe, die durch den »Brexit« allenfalls etwas an Gewicht verlieren: ein stabiles politisches System, das das kapitalistische Eigentum schützt; ein Wirtschaftsrecht, das für viele Verträge genutzt wird, weshalb auch russische Oligarchen und viele andere ihre Rechtsstreitigkeiten hier klären; die Zeitzone zwischen Amerika und Asien. In Großbritannien ballt sich viel Expertise, London ist im Interbankenhandel mit dem Rest der Welt führend, weit vor jeder anderen europäischen Metropole und New York. Das alles bleibt bestehen.
Der »Brexit« schränkt bestimmte Geschäfte mit dem übrigen Europa ein und schwächt die Stadt dadurch in manchen Bereichen. Aber der Schaden ist überschaubar. Außerdem hat Großbritannien in den vergangenen Jahren enorme Anstrengungen unternommen, um die finanziellen Beziehungen nach China auszubauen, und dafür ist das Land nicht unbedingt auf Europa angewiesen. Deshalb wird London meines Erachtens weiterhin eine sehr starke Position haben, wenn auch geschwächt durch allgemeine wirtschaftliche und finanzielle Entwicklungen und durch das zusätzliche Problem »Brexit«.
Großbritannien hatte in der EU eine komfortable Position. Es profitierte vom Binnenmarkt, entzog sich aber vielen Regulierungen. Welches Motiv hatten Ukip und bestimmte Gruppen der Tories, für den EU-Austritt zu werben, obwohl er Kapitalinteressen zuwiderläuft?
Aus Sicht des Großkapitals ist der »Brexit« verrückt, aber eine Minderheit von Unternehmern, vielleicht zehn Prozent, meinte, angesichts der Krise der EU solle man sich außerhalb nach besseren Optionen umschauen. In der britischen Politik gab es immer eine Minderheit, die sich an der viel größeren Welt jenseits Europas orientiert – das ist teilweise Nostalgie, drückt aber auch die Realität starker Beziehungen zum amerikanischen Imperialismus aus, von Spionage- und Sicherheitsabkommen bis zum globalen Finanzsystem, das im Kern angloamerikanisch ist. Die EU-Mitgliedschaft war zwar völlig kompatibel mit Kapitalinteressen, aber es gab auch gewisse Sorgen, dass die Regeln immer stärker von den mächtigen Staaten in der Eurozone bestimmt würden. Das politische Ziel der EU war ja schließlich, zu einer gemeinsamen Währung zu kommen. Steht man dann wie Großbritannien oder Dänemark immer am Rand, ist das eine recht ungemütliche Position. In den vergangenen Jahren gab es politische Konflikte darüber, wie weit das Geschehen in der Eurozone den EU-Mitgliedern schade, die ihr nicht angehören. Aber alles in allem ergibt der »Brexit« trotzdem keinerlei Sinn für den britischen Kapitalismus.
Warum hatten die Austrittsbefürworter dennoch solchen Erfolg?
In manchen Milieus der Mittelschicht mag es gewisse patriotisch-nostalgische Haltungen geben – »Make Britain great again« –, aber das Gros der Stimmen für den »Brexit« kam aus der weißen Arbeiterklasse, insbesondere der englischen. Die klagt darüber, dass sich ihre wirtschaftliche Situation seit etwa zehn Jahren verschlechtert. Millionen von Menschen haben keinen Job, leben von Sozialleistungen oder sind Geringverdiener. Durch die Einwanderung fühlen sie sich auf dem Arbeitsmarkt bedroht. Interessant ist, dass es dabei nicht nur um weiße Arbeiter geht, die sich gegen Nichtweiße wenden; primär geht es gegen weiße Osteuropäer wie den sprichwörtlichen »polnischen Klempner« oder Rumänen. Die traditionelle Arbeiterklasse beklagt, Staatsausgaben und Privilegien, die sie früher hatte, kämen nun Einwanderern zugute, die ihnen außerdem die Jobs wegnähmen.
Studien zeigen, dass zum Beispiel der Gesundheitssektor ohne die vielen osteuropäischen Arbeitskräfte kollabieren würde. Wie kann man also behaupten, die Einwanderung sei schlecht für die Wirtschaft? Aber es gibt eine große Gruppe, die von der sogenannten Globalisierung nicht profitiert hat und die die britischen Kapitalisten für zu internationalistisch und nicht patriotisch genug hält. Im Kern ist das eine Position der »nationalen Wohlfahrt«. Sie ist manchmal rassistisch oder fremdenfeindlich, aber in erster Linie nationalistisch. Deshalb teilen auch manche polnische Arbeiter, die schon länger hier leben, und nichtweiße Briten diese Position. Das Problem geht also über ein paar rassistische weiße Arbeiter weit hinaus. Die Forderung, der Staat solle sich stärker um ihre Interessen kümmern, wie in der guten alten Zeit, war zum Beispiel die Grundlage für den Erfolg von Ukip, die vielleicht dramatischste politische Entwicklung in Großbritannien in den vergangenen 50 Jahren.
Dieser nationalistische Unmut in der Arbeiterklasse ist offenbar eine Triebkraft vieler aktueller Entwicklungen, etwa des Wahlsiegs von Donald Trump. Mehr Protektionismus würde die Krise nach Dafürhalten der meisten Ökonomen aber eher noch verschärfen. Lässt sich das als Anwachsen von Irrationalität fassen?
Aus einer materialistischen Perspektive müssen wir davon ausgehen, dass Menschen für das stimmen, was sie für ihr wirtschaftliches Interesse halten. Im Moment läuft das auf nationalistische Wirtschaftspolitik hinaus – auch wenn sich das auf eine Vergangenheit bezieht, die es so nie gegeben hat. Das kann den Interessen der Kapitalistenklasse widersprechen, aber die existiert nicht unabhängig von den politischen und sozialen Beziehungen innerhalb des Nationalstaats.
In einer Phase, als die staatliche Politik und die Nationalökonomie gut liefen, konnten alle davon profitieren – besonders die Kapitalisten. Selbst wenn die Arbeitslosigkeit wuchs, gab es doch genügend Sozialausgaben. Aber die Wirtschaftskrise hat die Voraussetzungen dafür untergraben. Daher der zunehmende Wirtschaftsnationalismus in den meisten maßgeblichen Ländern. Den gibt es in einer linken Version, wie sie zum Beispiel Bernie Sanders in den USA vertritt, aber dominierend ist eindeutig die rechte, siehe Trump, Ukip oder ähnliche Tendenzen in Westeuropa.
Die Wirtschaft stagniert weiterhin, die Erholung von der Krise ist schwach ausgefallen, trotz Nullzinspolitik, gewaltiger Geldinjektionen durch die Zentralbanken, defizitärer Haushalte und einem wachsenden Schuldenberg. Das gilt für alle wichtigen Länder. Angesichts dieser Konjunkturmaßnahmen hätte es einen Boom geben müssen, aber der ist offensichtlich ausgeblieben. Nachdem diese Länder es zuerst mit allen Standardrezepten und dann mit neuen geldpolitischen Maßnahmen versucht haben, sind sie mit ihrem Latein jetzt nahezu am Ende. Der nächste Schritt scheint daher in verstärktem Nationalismus zu bestehen. Auf einem Markt, der nicht wächst, kann man die eigene Position gewöhnlich nur zu Lasten anderer Länder verbessern. Das ist offenbar die politische Logik hinter dem »Brexit«, wie seine Befürworter sie formulieren: »Jetzt können wir selbst frei entscheiden und das tun, was am besten für Großbritannien ist.«
Das entscheidende Thema war die Einwanderung. Würde eine restriktivere Politik die Lage britischer Arbeiter denn verbessern?
Nein. Die Arbeiter, die für den »Brexit« waren, haben nie über den Kapitalismus geklagt, sondern immer nur über die »ungerechte« Politik. Das Thema Kapitalismus tauchte in der ganzen Diskussion überhaupt nicht auf. Viele Linke sehen Rassismus als ein Werkzeug der Bosse zur Spaltung der Arbeiterklasse, die von Natur aus universalistische Ansichten hätte. Aber das stimmt nicht. Ziemlich oft fördern die Kapitalisten keineswegs rassistische Ideologien unter den Arbeitern – sie wollen vielmehr einen freien Markt, auf dem sie anheuern können, wen sie wollen. Rassistische Einschränkungen dieser Freiheit gingen in Großbritannien vor allem von den Gewerkschaften aus. Der freie Markt hat viele dieser Einschränkungen abgeschüttelt und damit etwas untergraben, das die einheimische Arbeiterklasse gegenüber Neueinwanderern bevorzugt hat.
Viele EU-Regierungen sind für einen »harten Brexit«, um mögliche Nachahmer abzuschrecken. Sehen Sie trotzdem die Möglichkeit eines »weichen Brexit«?
Da liegt definitiv ein Widerspruch vor. Die maßgeblichen europäischen Länder wollen nicht, dass der Eindruck entsteht, ein EU-Austritt sei eine problemlose Option. Zentral ist das Thema Einwanderung. Die EU-Position lautet: Kein Zugang zum Binnenmarkt ohne Freizügigkeit. Die Briten hoffen auf einen Kompromiss, aber ich sehe nicht, wie die EU da Abstriche machen könnte.
Das ist der logische Grundfehler der Menschen, die meinen, Großbritannien könne auf eigene Faust handeln. Großbritannien ist wesentlicher Bestandteil aller entscheidenden globalen Machtstrukturen und hat eine anerkannte Position. Der »Brexit« hat das weitgehend über den Haufen geworfen. Alle Verbündeten, alle Rivalen der Briten wundern sich. Normalerweise gilt die britische Diplomatie als geschickt, die Briten hatten oft eine Rolle, die der eines Consigliere der Mafia glich, der Probleme ausbügelt und schwierige Geschäfte einfädelt. Aber diesmal sind sie die Unruhestifter.