Aufklärung über die infantile Sexualität ist notwendig

Die Angst vor der infantilen Sexualität

Aufklärung von Kindern und Jugendlichen fördert nicht nur die Toleranz, sie beugt auch sexuellen Übergriffen vor.

Das Bündnis »Demo für alle« gehört zu einer Bewegung, die in Deutschland seit mehreren Jahren gegen eine angebliche »Frühsexualisierung von Kindern«, den Feminismus und die »Homo-Lobby« protestiert. Es handelt sich um eine überregionale Bewegung, die die vermeintliche Diskriminierung der Heterosexuellen anprangert. Ihr führender Ideologe, Manfred Spieker, drückt das so aus: »Die neuen Richtlinien infizieren die Orientierung des ­Sexualkundeunterrichts an Ehe und Familie mit dem Gift der Gendertheorie.« Dasselbe Ressentiment tragen der ­Landeselternbeirat und der hessische Philologenverband gewandter vor: »Wenn allerdings ein ›wertschätzendes Verständnis‹ für die Vielfalt der partnerschaftlichen Beziehungen, der zum Teil sehr spezifischen sexuellen Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten vermittelt werden soll«, so sei dies »sehr weitgehend«, schreiben die Organisationen angesichts neuer Lehrpläne. »Ganz abgesehen davon, dass hier psychologische und biologische Kategorien miteinander vermischt werden, lässt der Lehrplan weder Eltern und Schülern noch Lehrkräften die Freiheit, zumindest in Teilen zu anderen Bewertungen der verschiedenen Aspekte von Sexualität zu kommen.«
Man will »zumindest in Teilen« gegen Homosexualität sein dürfen, der man mit duldsamer »Toleranz« begegnen mag, aber auf keinen Fall mit »Akzeptanz«, wie es die neuen Lehrpläne fordern. Weiter beklagt der Lehrerverband, dass schon für »Zehn- bis Zwölfjährige Themen wie Bi-, Homo- und Transsexualität vorgesehen sind«. Die Geschlechtsreife tritt heutzutage vermutlich wegen des gestiegenen Proteinkonsums seit 1850 drei Jahre früher als damals ein, in Nordeuropa bei vielen Mädchen bereits mit neun Jahren. In Extremfällen sind Kinderschwangerschaften auch noch früher möglich. Ein Drittel der Kinder geht ohnehin masturbierend durch die »Latenzphase« und dabei bilden sich erotische Phantasien. Die daraus entstehenden Fragen aus den heimlichen Briefen an »Dr. Sommer« heraus- und in den Schulunterricht hereinzuholen, ist nur zeitgemäß.
Das gilt auch für die Homosexualität. Auf der Straße kräht ein Siebenjähriger auf seinem Fahrrad: »Dortmund ist scheiße, Dortmund ist schwul!« Jemand erinnert den kleinen Fußballfan an Mark. Der hat Männer lieber als Frauen und deshalb auch den Manuel geheiratet. Das nennt man »schwul«. Jeder hat ja manchmal den Papa lieber als die Mama. Und da ist es doch gemein zu sagen, dass der Mark dann »scheiße« sei. »Ja, da hast du eigentlich recht«, sagt der Junge bedächtig.
Der objektive Zwang zur Aufklärung über Homosexualität im Kindesalter entsteht aus solchem Aufgeschnappten, das gerade auf Kinder mit gleichgeschlechtlichen Eltern kränkend wirkt. Von diesen will Spieker nichts hören, sie existieren für ihn nicht. Er beschwert sich über den »Konzeptbaustein: Sex­uelle Bildung in der Kita« des Caritasverbands Berlin: »Die Kinder in der Kita sollen sich ›mit der Vielfalt von Geschlecht‹ auseinandersetzen, ›Männer und Frauen und deren Vielfalt‹ kennenlernen, ›über Beziehungsgestaltung‹ ­reden und zwischen sozialem und biologischem Geschlecht differenzieren. Welche Vorstellung haben die Autoren von drei- bis fünfjährigen Kindern?«
Das inkriminierte Papier der Caritas richtet sich an Betreuerinnen und Betreuer und empfiehlt diesen die Anerkennung der infantilen Sexualität. Kindern wird eine Sphäre der autonomen Selbsterkundung zugestanden. Zugleich beugt der Entwurf mit solider Grenzarbeit Übergriffen durch Erwachsene oder andere Kinder vor. Die von Spieker als Stundenplan für Dreijährige zitierten Passagen sind in Wahrheit ­gegen die erschütternd erfolgreiche Genderisierung von Spielwaren und Nahrung formuliert, die kleine Mädchen auf Kitsch und Jungen auf Aggression verpflichtet.
Ein weiterer Beteiligter der »Demo für alle« nennt sich »Der freie Journalist«. Auf dem gleichnamigen Blog beschwert sich ein Autor namens Gunther Oberheide über das von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung für Kitas entworfene Aufklärungspaket »Kindergartenbox – Entdecken, Schauen, Fühlen«. Ein Problem hat er vor ­allem mit den Stoffpuppen »Lutz und Linda«, die im Paket vorkommen. »Klar ist ›Lutz‹ zwar eine Puppe, aber Puppen haben normalerweise keinen Penis mit Hoden«, ist in einem Blogbeitrag vom 24. Mai zu lesen. Eben. Puppen werden in aller Regel kastriert verkauft, den Kindern wird das Füllen dieser Leerstelle mit Kastrationsphanta­sien überlassen. Erleiden sie Übergriffe, fehlen insbesondere den Mädchen Worte für ihre Genitalien, sie beschreibt ihren Schmerz als »Bauchweh«.
Die Puppen schaffen Bewusstsein für den eigenen Körper, der »freie Journalist« macht daraus aber einen pädosexuellen Angriff auf Kinder, um als ­Gegenmittel das Schweigen der Familien einzufordern, denen es an fachlicher Schulung erst recht mangelt. Auch wenn einzelne Übungsentwürfe für Schulen wie das »Bordell für alle« kritikabel sind, ist die vermeintliche Kritik meistens doch reaktionärer Pulverdampf.
Und doch entsteht dieser aus der Instrumentalisierung eines tatsächlichen Problems. Sigmund Freud verteidigte die Autonomie der infantilen Sexualität, um Kinder vor Kastrationsdrohungen und Gewalt zu bewahren. Wilhelm Reichs Sexualpolitik kassierte diese Autonomie. Das Individuum solle sich ­sexuell betätigen, um eine bessere Gesellschaft zu produzieren. Das Private wird der politischen Instrumentalisierung zugeführt. Der Kastrationskomplex tritt in den Hintergrund, ein esoterisches Sexualenergiemodell rückt ins Zentrum. Es erwies sich historisch als Einfallstor für Interessensgruppen, die ihre pädosexuelle Praxis als »Förderung« der kindlichen Entwicklung ­verkauften. Der kindliche Exhibitionismus und der neugierige Wunsch nach dem Berühren und Untersuchen der elterlichen Genitalien wurden enteignet und als Legitimation der pädosexuellen Verführungswünsche Erwachsener missbraucht. Es entstand das Konstrukt des »einvernehmlichen Verkehrs« mit Kindern, den zu unterdrücken schädlich sei. Helmut Kentler, der das Vorwort zum ­Fotoband und einstigen Bestseller »Zeig mal!« von Will McBride verfasste, schrieb über sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern: »Werden solche Beziehungen von der Umwelt nicht diskriminiert, dann sind um so eher positive Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung zu erwarten, je mehr sich der Ältere für den Jüngeren verantwortlich fühlt.«
Naiv wäre, noch auf solche ausbeuterische Ideologie Theodor W. Adornos Grundsatz der Sexualethik anzuwenden, nach der ein »Ankläger immer unrecht hat«. Eben das versuchten einige Beiträge der Zeitschriften Bahamas und Pólemos, die primär die Mob­bildung gegen Pädosexualität problematisierten. Der Mob war und ist indes selten. So mussten die Opfer der Odenwaldschule Aufmerksamkeit erst erkämpfen. Und die Reaktionen auf Informationen über den Missbrauch in katholischen Institutionen waren von Aggressionen gegen die Opfer durchzogen. Die Titanic zeigte eine zynische Karikatur, bei der sich ein Priester am Penis eines verzückt errötenden Jesus am Kreuz zu schaffen macht. In der Taz fand sich eine Karikatur von zwei nackten, gebückten Kindern, denen »streng katholische« Erziehung diagnostiziert wurde. Auch gegen Natascha Kampusch wurde gehetzt: Sie habe ihr Leiden selbst provoziert oder zumindest im Nachhinein ausgebeutet.
Gegen solchen indifferenten Umgang mit den Opfern hat die sexuelle Revolution trotz ihrer Ausfälle insgesamt zu einer besseren Prophylaxe geführt. ­Gesellschaftliche Rückstände bleiben die Sympathien für die Jungenbeschneidung und die Verschleierung von Mädchen, obwohl erstere Jungenkörpern die Kastrationsdrohung in den Leib schreibt, während letztere in den Vitamin-D-Haushalt der Mädchen eingreift und ihre Bewegungsfreiheit ­sabotiert. Nach der Zustimmung der Kinder wird dabei nicht gefragt. Hier will linker Kulturalismus, wie die autoritäre Propaganda, die Verfügungs­gewalt der Erwachsenen über Kinder zu bewahren. Ihr Angriff auf die Aufklärung über infantile Sexualität trifft sich mit ihrem Bedürfnis, unreflektierten oralen Neid, ödipale Kastrationswünsche und Homophobie weiter im Hass auf einen kollektiven Feind zu kanalisieren. Kinder sollen nicht beschützt, sondern wie die Erwachsenen im ­Mythos gehalten werden. An den mit eigenem Fragen und Forschen erhellten Mysterien der Sexualität lernen Kinder schließlich Kreativität, Autonomie und Intellektualität. Mit den ­Mythen um das dunkle, vermeintlich gewaltsame Geheimnis im Schlaf­zimmer der Eltern sterben auch Verschwörungsängste ab. Mit dem ana­lytischen Begreifen sexueller Perversion als bloßem Extrem des Eigenen verblassen der Projektionswunsch und so das Material des Autoritarismus.