Eine Kritik des Buchs »Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität. Kritische Perspektiven«

Die schwule Gefahr

Auf Homo reimt sich bei Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß Nationalismus. In ihrem Buch »Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität« plädieren die Autoren für die Überwindung der Homosexualität.

Schwulsein ist gefährlich. Küssen sich Schwule in der Öffentlichkeit, dominieren sie mit ihrer Homosexualität alles andere. Öffentliches Schwulsein lässt keinen Raum mehr für die Entfaltung nichtschwuler Lebensformen.
Solche Argumente kommen nicht nur aus der rechten Ecke »besorgter Eltern«. Dem gesellschaftlichen Fortschritt verschrieben, dabei aber nicht weniger antiaufklärerisch, wenden sich Zülfukar Çetin und Heinz-Jürgen Voß in ihrem Buch »Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität« (2016) nicht nur gegen die Sichtbarkeit Homosexueller in der Gesellschaft, sondern gegen die Homosexualität an sich.
Das ist keine Polemik: Homosexualität verstehen die Autoren als ein Angebot zur Identifikation, das abgelehnt werden müsse, um gesellschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen. Wie jede Identität sei die homosexuelle nämlich nicht bloß einengend, schlimmer noch: »Der ›­Homosexuelle‹ und seine Bewegung sind von vornherein in die westlichen Herrschaftsverhältnisse eingebunden«, schreiben die Verfasser. Fragwürdig sei Homosexualität, weil sie nur als »Abgrenzung gegen die geschlechtlich-sexuellen Handlungen ›der Anderen‹« bestehe und es eine unauflösliche »Verschränkung von ›Homosexualität‹ und Rassismus/Kolonialismus« gebe. Das Problem mit der Homosexualität sei sogar noch umfassenderer, da sich »die Interessenlagen hinter dem Begriff ›homosexuell‹ durch rassistische, sexistische und klassistische Diskriminierung sehr breit auffächern« ließen. Auf den Punkt gebracht: Sich als schwul zu bezeichnen, ist eine »koloniale und rassistische Zuschreibungspraxis«. Daher verpflichten sich Çetin und Voß »einer klaren Analyse« und resümieren: »In unserem Buch wurde deutlich, wie weiße Schwule in den nationalen und ­rassistischen Aushandlungen mitmischen.« Der zentrale politische Schluss daraus lautet, sich der schwulen Identität endlich zu entledigen, sich der Homosexualität als Zuschreibung zu »verweigern«, sie zu »verlernen«.
»Der ›Homosexuelle‹« ist ganz bewusst gegendert, das Feindbild gewinnt Kontur: Es geht nicht um alle Homosexuellen, es geht um die homosexuellen Männer. Lesben und Transmenschen grenzen Çetin und Voß an mehreren Stellen bewusst davon ab, da sich bei diesen »mehr kritische Aushandlungen untereinander zeigen«. Das ganze Buch durchzieht eine herablassende Missgunst gegenüber Schwulen. Auch das ist keine Polemik, sondern anhand der inkonsequenten Argumentation nachweisbar. Einerseits sprechen die Autoren nur noch von Diskursen, Konstruktionen und Aushandlungen: Befreiung etwa ist nicht möglich und nicht gewünscht, kritisiert werden soll hingegen ein »Emanzipationsdiskurs«, der Schwulenverfolgung und Frauenunterdrückung in islamischen Staaten »herstellt« und in einer »(konstruierten) muslimischen Welt« ansiedelt. Schuld sei ein »antimuslimisch-rassistischer Homophobiediskurs«.
Angesichts der Situation von Schwulen und Frauen in islamischen Staaten müssen diese Ausführungen als zynische Verleugnung bezeichnet werden. Von der Journalistin Mona El-Naggar interviewte Frauen in Saudi-Arabien berichten beispielsweise nicht von Konstruktionen, sondern von Frauenverachtung und Unterdrückung. Folter und Ermordung von Schwulen im Iran sind ebenso wenig Diskurse, sondern grausame Realität. Doch kann man den Autoren womöglich, auch wenn es schwerfällt, noch nicht einmal eine böse Absicht unterstellen. Andererseits sind diese Diskurse in Çetins und Voß’ Ausführungen nicht mehr im Sinne einer diskursiven Praxis wirksam, sondern werden wahnhaft nur mit bestimmten konkreten Subjekten, den weißen Schwulen, verknüpft.
Wenn man den Begriff des Diskurses gebraucht, sollte man ihn auch konsequent anwenden: Dann beeinflussen der Diskurs und die oben ­zitierten »Herrschaftsverhältnisse« alle Subjekte einer Gesellschaft inklusive ihrer Handlungen. Diskurse sind dann nicht bloß beliebig sich verändernde Meinungen, sondern kulturell und sozial vermittelte Konstrukte und gesellschaftliche Prak­tiken. Was auch immer man von der Diskurstheorie hält, Çetin und Voß erweisen ihr einen Bärendienst. Denn, so ist es ihren Ausführungen zu entnehmen, die Unterdrückung geht stets nur von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen aus, die »auf der Täterseite« stehen und deshalb ihre Privilegien reflektieren sollten. Dazu gehören besonders die weißen Schwulen. Die Autoren kritisieren zwar die Gegenüberstellung von Homosexuellen und Muslimen, treiben sie aber selbst auf die Spitze: Die Schwulen üben demnach die Herrschaft über »die Anderen« aus. Homosexuellenfeindlichkeit ist den Autoren nicht der Rede wert.
Genauso wie die Verfolgung von Homosexuellen in »vermeintlich homophoben muslimischen Gesellschaften« geleugnet wird, werden feindselige Sprüche, unter denen viele junge Homosexuelle leiden, als »belangloses Flachsen« abgetan. Coming-outs, so die leicht widerlegbare Behauptung, seien heutzutage für die meisten jungen Schwulen und Lesben gar kein Problem mehr, die Eltern würden bloß noch »mit den Achseln zucken«. Die Feindseligkeiten, die queere Flüchtlinge in Unterkünften erleben, werden bagatellisiert. Immer wieder gehen die Autoren über die Gewalterfahrungen von Schwulen hinweg. Ihnen Empathielosigkeit zu bescheinigen, würde über die bewusste Verleugnung, die hier stattfindet, hinwegtäuschen. Das Übergehen des Leidens möchte mit dem Be­wegungswillen, den sich die Autoren bescheinigen, nicht zusammenpassen. Das schwule Antigewaltprojekt Maneo, das unwissenden Leserinnen und Lesern nach der Lektüre des Buches als rassistischer Scheißverein erscheinen muss und in Berlin doch eine unwahrscheinlich wichtige Arbeit leistet, wird indirekt mit einer Fallbeschreibung zitiert. In dem Zitat geht es um zwei schwule Jugendliche, die in der Öffentlichkeit attackiert wurden. Schon die kurze Schilderung ist geradezu beklemmend. Çetin und Voß reihen sie bloß hämisch und ohne jedes Mitgefühl in ihre Auflistung böser Schwuler ein – mit der Begründung, dass einer ihrer politischen Gegner den Artikel geschrieben habe. Da verwundert es nicht, dass mehrmals die US-amerikanische Genderwissenschaftlerin und Terrorapologetin Jasbir Puar angeführt wird, die »homo« tatsächlich nur noch als Schimpfwort gebraucht.
Der Pranger, den die Auflistung böser Schwuler darstellt, hat eine wichtige Funktion. Schließlich gefallen sich die Autoren des Buches in einer nonkonformistischen Pose, die jeglichen Inhalts beraubt nur noch mit autoritären Gelüsten aufwarten kann. Rassismus wird entgegen aller Beteuerung nicht thematisiert, sondern nur falsch mit der öffentlichen Sichtbarkeit von Schwulen verknüpft. Dieser Gedanke wird immer stärker zum queerfeministischen Common Sense, er ist aber schlicht paranoid und gegen jede Emanzi­pation gerichtet. Wenn sich zwei Schwule küssen, so ist das keine Unterdrückung all derjenigen, die sich nicht als schwul bezeichnen oder bekennen. Für Çetin und Voß sind Kiss-ins aber »homonationalistische Ereignisse«, zumindest wenn sie in Kreuzberg oder Neukölln stattfinden, wo viele Migranten und Migrantinnen leben. »Die schwulen Küsse«, so eine Überschrift im Buch, »sind deutsche Leitkultur«: »Aktuellem Aktivismus weißer Schwuler liegt ein unreflektiertes und nicht theoretisiertes Verständnis von Raum und Aktivismus im Raum zugrunde.« Die Realität sieht anders aus: Diesem schwulen Aktivismus liegt zugrunde, dass Schwule, egal welcher Haut­farbe, auch in Berlin dumme Sprüche und in letzter Konsequenz Schläge bekommen, wenn sie sich küssen. Von Leitkultur kann keine Rede sein. Wer sich von schwulem Treiben, wie Gladt e. V. in dem Buch zitiert wird, »überrumpelt« fühlt, dem steht nicht »Homonationalismus«, sondern die eigene Schwulenfeindlichkeit im Weg.
Sichtbarkeit von Homosexuellen bedeutet in diesem Buch ganz un­dia­lektisch ausschließlich: Kontrolle, Unterwerfung und Unterdrückung. Selbst das jugendliche Coming-out steht unter Generalverdacht. Es sei eine »Abgrenzung von Möglichkeiten«. Offenbar verachten Çetin und Voß nichts mehr als die »statische Verfestigung«, die die homosexuelle Identität ihrer Ansicht nach bedeutet. Demgegenüber zählen sie auf, wie sich die Menschen doch ohnehin schon – egal zu welcher Identität sie sich bekennen – sexuell ganz divers verhalten. Als sei das eine Neuheit und als würde sich eine Identität, in der Nichtidentisches identisch gemacht werden soll, jemals in diesem vollendeten Sinne formieren.
Auch hier wird ein unsinniger Zusammenhang hergestellt: Dass sich eine Person als homosexuell bezeichnet, bedeutet nicht, dass alle in ihrem Sinne homosexuell zu sein haben. Es bedeutet aber gegenwärtig zumindest, dass sich die Person selbstbewusst zu ihrer Differenz in einer Gesellschaft bekennt, die das Andere nach wie vor mit Ablehnung und Geringschätzung straft. Homo­sexuelle Sichtbarkeit bedeutet einerseits, sich dem einseitigen Geständnisdiktat für Homosexuelle zu beugen: Heterosexuelle müssen kein Coming-out durchleben, in dem ihr Anderssein eine Abwertung erfahren würde. Andererseits bedeutet homosexuelle Sichtbarkeit auch das Selbstbewusstsein, sich von dem Hass und der auferlegten Scham, die das Anderssein dieser Tage nur umso deutlicher erfährt, nicht verunsichern zu lassen.
Dass die Liberalisierung der vergangenen Jahrzehnte umschlagen kann, ist für Çetin und Voß Grund genug, sich der Homosexualität und der sichtbaren Differenz zu entledigen. Darin und in dem undif­ferenzierten Gebrauch des Diskursbegriffes scheint der Wunsch auf, auch selbst endlich nicht mehr anders zu sein.
Doch gerade weil die Liberalität als teilweise nur inszenierte Scheintoleranz zurückgenommen werden kann, bedeutet die Aufforderung, sich zu verstecken, Unterwerfung und Anpassung im schlechten Sinne. Herrschaft kann man sich nicht entziehen, indem man sich per magischem Denken »unsichtbar« macht. Der Rückzug in das Versteck ist keine Option.
Schwulsein bleibt gefährlich. Gefährlich ist es aber für die Antiaufklärung, vor deren Lauterwerden sich in den vergangenen Monaten so viele erschrecken. Das Andere ist keine subalterne Identität, die auf re­volutionäres Potential hin geprüft werden muss, wie es in dem Buch des Öfteren zu lesen ist. Das Andere ist ohnehin vorhanden, Ausgangspunkt der Reflexion über sich selbst und die Außenwelt. Die wichtige Frage ist, ob man zu reflektieren bereit ist, wie der Sexualwissenschaftler Martin Dannecker schreibt: »Was wirkliche Toleranz von Scheintoleranz unterscheidet, ist ihr Wissen um das noch Differente und das Akzeptieren des Anderen als Anderen«.
Zülfukar Çetin/Heinz-Jürgen Voß: Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität. Kritische Perspektiven. Psychosozial-Verlag, Gießen 2016, 19,90 Euro, 146 Seiten
Am 24. November stellt Patsy l’Amour laLove ihr neues Buch »Selbsthass & Emanzipation. Das Andere in der heterosexuellen Normalität« vor. Um 20 Uhr im K-Fetisch, Wildenbruchstraße 86, 12045 Berlin.