im Gespräch mit Elisabeth Tuider, Erziehungswissenschaftlerin, über Sexualerziehung als gesellschaftlichen Fortschritt

»Im Zentrum der Moralpanik«

Die Soziologin und Erziehungswissenschaftlerin Elisabeth Tuider ist Autorin eines sozialpädagogischen Buchs für die Arbeit mit Jugendlichen. Sie schlägt darin Methoden zur Diskussion von sexueller Vielfalt vor. Die Kasseler Professorin erhielt deshalb Mord- und Vergewaltigungsdrohungen. Mit der »Jungle World« sprach sie über Rassismus, Homophobie und Analverkehr.

Wie sieht der Sexualkundeunterricht in deutschen Schulen aus?
Das Verhältnis von Schule und Sexualpädagogik ist in Deutschland seit fast 40 Jahren klar geregelt, seit die Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder 1968 die schulische Sexualerziehung als fachübergreifendes Unterrichtsprinzip pädagogisch verankert hat. Schule ist der zentrale Ort für Sexualerziehung. Über 90 Prozent der Jugendlichen geben an, Sexualerziehung in der Schule gehabt zu haben. Lehrerinnen und Lehrer sind ebenso wie Eltern, insbesondere Mütter, zentrale Personen für Fragen von Jugendlichen. Zugleich wissen wir aus derselben Untersuchung, dass Sexualerziehung in der Schule oftmals nur auf den biologischen Aspekt von Sexualität fokussiert. Viele Lehrpersonen laden sexualpädagogisches Fachpersonal von Pro Familia, der Aids-Hilfe oder von Aufklärungsprojekten ein. Diesen externen Fachpersonen fällt es wegen ihrer strukturellen Fremdheit oft leichter, mit ­Jugendlichen ins Gespräch über Sexualität, Beziehung und Liebe zu kommen. Sexualpädagogik eröffnet Gesprächsräume und begleitet Jugendliche in ihrer Auseinandersetzung.
Was ist an diesem Unterricht aus Ihrer Sicht veraltet?
In den verschiedenen Forschungsbereichen sehen wir ganz deutlich: Sexuelle und geschlechtliche Vielfalt existiert, sie ist auch im Leben von Kindern und Jugendlichen präsent. Deswegen muss es Aufgabe der Sexualpädagogik sein, Jugendliche dazu zu befähigen, mit der gesellschaftlichen Realität umzugehen und selbstbestimmt zwischen verschiedenen Sexualitäts-, Liebes- und Familienentwürfen zu wählen. Diskriminierung von Menschen, die nicht ins Mann-Frau-Schema passen oder nicht die heterosexuellen Erwartungen erfüllen, sind nicht passé. Für mich geht es einerseits darum, Jugendlichen, die in ihren Liebes- und Lebensweisen nicht der gesellschaftlichen Dominanzkultur entsprechen, Anerkennung und Unterstützung zu geben. Und andererseits muss es das Ziel sein, allen Menschen die Kompetenz zu geben, anderes anzuerkennen, auch wenn es nicht den eigenen Vorstellungen entspricht. Bestandteil der sexualpädagogischen Arbeit ist die Auseinandersetzung mit Vielfalt und die Auseinandersetzung mit Grenzen, Macht und sexu­alisierter Gewalt. Sexualpädagogik ist in diesem Sinne immer Prävention. Kinder und Jugendliche sollten ihre eigenen Gefühle, ihre eigenen Grenzen wahrnehmen können und wissen, was sie wollen und was sie nicht wollen. Auseinandersetzung und Diskussion, das Sprechenkönnen über Sexualität und Grenzen sind Grundpfeiler präventiver Arbeit.
Bundesländer wie Hessen und Baden-Württemberg haben neben dem traditionellen Familienbild auch Homosexualität, Trans- und Bisexualität sowie Gender-Fragen in die Lehrpläne aufgenommen. Dagegen gibt es Protest.
Die Diffamierungen, Diskreditierungen, Bedrohungen und Anfeindungen der Sexualpädagogik und auch der Gender- Studies gehen nicht nur von einer evangelikalen oder neurechten Gruppe aus, sondern Analysen zeigen, dass es sich vielmehr um ein Konglomerat aus konservativen, rechtspopulistischen, religiös-fundamentalistischen, rechtsextremen, aber auch bürgerlich-liberalen Kreisen handelt. Diese Kreise schüren Angst vor dem Verlust von bürger­lichen Familienwerten und -normen, die in einer pluralen und diversen Welt erodieren. Zugleich wird von diesen Kreisen der Feminismus als monolithische und herrschaftsförmige Ideologie dargestellt, traditionalistische Geschlechterbilder und eine vermeintlich natürlich gegebene Zweigeschlechtlichkeit werden wieder hochgehalten. Den Errungenschaften der sexuellen Revolution hinsichtlich sexueller Selbstbestimmung und sozialwissenschaft­lichen Erkenntnissen über die Vielfalt von Lebensformen und Lebensweisen werden eine Absage erteilt. Sexualität ist hierbei nur eine Chiffre. Über Angriffe auf sie werden Ängste zum Ausdruck gebracht. Angst vor einer vermeintlichen Überfremdung, Angst vor einer Pervertierung und Pornographisierung – im Kern geht es um bürgerliche Lebensvorstellungen, die verteidigt werden sollen. Die in der Soziologie als Enttraditionalisierung beschriebenen Gesellschaftsveränderungen der vergangenen Jahrzehnte sollen zurückgedreht werden. Diese Gesellschaftsveränderungen machen Angst, weil damit Sicherheiten verloren gehen. Sexualität ist das Feld, auf das Ängste projiziert werden, um die vermeintlich verlorengegangene Moral wiederherzustellen. Sexualität ist der Schauplatz, auf dem Machtkämpfe ausgetragen werden, sexistische, homo- und transfeindliche. Aber auch völkisch-rassistische Ressentiments wurden und werden dabei geäußert.
Kritiker der Reformen wenden sich gegen einen vermeintlichen Gender-Wahn. Auch Frauen wie Hedwig von Beverfoerde, die die »Demo für alle« initiiert hat, melden sich zu Wort. Was bewegt Frauen dazu, sich antifeministisch zu organisieren?
Unabhängig vom Geschlecht schüren die oben geschilderten Bündnisse und Kreise die Ängste vor einer vermeint­lichen Frühsexualisierung und vor »Überfremdung«. Zum anderen dient die Figur des unschuldigen, asexuellen Kindes dazu, die Zukunft der weißen, deutschen Nation zu sichern, die es vor jeglicher Bedrohung, Verfremdung und Pervertierung zu schützen gelte. Das Bild des unschuldigen und reinen Kindes ist der historischen Bildungsforschung sehr gut bekannt. Als Muster antifeministischer Angriffe lassen sich identifizieren: Angst schüren, dekontextualisieren, personalisieren, fachliche Basiskonzepte ignorieren und trollen. Die Sexualwissenschaft und die Sexualpädagogik kennen Wellen der moralisierenden Diskursivierung. Sexualität, eine unterstellte sexuelle Verwahrlosung oder eine angeblich pornographisierte Jugend stehen immer wieder im Zentrum dieser Moralpanik. Neu ist die Vehemenz, mit der die Angriffe in den sozialen Medien in Form von hate speech ausgetragen werden. Ziel von hate speech ist es, einzelne Personen und Personengruppen zum Schweigen zu bringen.
In Ihrem Buch »Sexualpädagogik der Vielfalt« schlagen sie Ansätze vor, die bisher in den wenigstens Schulen im Sexualkundeunterricht vorkommen. Es geht unter anderem um Analsex als Thema eines Theaterstücks, Sexualität während der Menstruation und die Kreation eines »Puffs für alle«, bei der diverse Lebensmodelle und Sexualpraktiken berücksichtigt werden sollen. Für wie realistisch halten Sie es, dass Lehrerinnen und Lehrer mit ihren Klassen über diese Themen sprechen?
Im Buch haben wir über 70 Methodenvorschläge zusammengestellt, zu den Themen Identität, Beziehung, Familie, Körper- oder Schönheitsnormen, Macht, Grenzen und Prävention. Methodisch reicht das Repertoire von Quiz, Collage, Internetrecherche bis zum Fragebogen und Rollenspiel. Das Fachbuch ist keine Handlungsanweisung. Und wenn sich eine Lehrperson unwohl mit einer Methode fühlt, dann wird sie diese auch nicht anwenden. Denn niemand muss eine Methoden anwenden. Die pädagogische Praxis zeigt, dass einige Kinder und Jugendliche Fragen zu Themen wie sexuelle Praktiken, Sexspielzeug oder BDSM haben. Solche Details tauchen als Begriffe oder Bilder in den verschiedenen Medien auf und fließen in Gespräche unter Jugendlichen ein. Studien zufolge haben 70 Prozent der Jungen und 30 Prozent der Mädchen unter 14 Jahren schon Pornographie kennengelernt. Solche Erfahrungen werfen bei den Jugendlichen Fragen auf. Ziel von Sexualpädagogik ist es, einen Raum zu schaffen, in dem unterschiedliche Fragen, Unsicherheiten und auch Ängste, die Sexualität, Beziehung und Liebe betreffen, von den Jugendlichen gestellt und besprochen werden können. Dabei geht man von den jeweiligen Themen der Jugendlichen aus. Manche Jugendliche bringen solche Themen nicht mit und dann werden die Aufgabenstellungen nicht angewendet. Wenn es keine Themen wie Pornographie oder Analverkehr in der Gruppe gibt, ist eine diese Inhalte aufgreifende Methode schlicht nicht anwendbar. Und grundsätzlich gilt: Jeder kann jederzeit aussteigen, die Methoden beruhen auf Freiwilligkeit. Es muss auch niemand über sich selbst sprechen.
Besteht im progressiven Sexualkundeunterricht auch die Gefahr, dass man bestimmte Schülerinnen und Schüler ausschließt?
Ausgebildete Sexualpädagoginnen und -pädagogen schauen zuerst, welche Bedürfnisse und Themen in einer Zielgruppe vorhanden sind. Nach einer solchen Analyse wählen sie dann geeignete Methoden aus und verändern sie so, dass sie den Bedürfnissen ihrer Gruppe entsprechen. Dabei achten sie sehr auf die Grenzen der Kinder und Jugendlichen. Hierzu stellen sie Regeln auf, beispielsweise, dass niemand etwas sagen oder tun muss, was er oder sie nicht möchte. Sexualpädagogen ermutigen ausdrücklich dazu, dies für sich selbst zu entscheiden. Die altersadäquate, zielgruppenorientierte und fächerübergreifende Auseinandersetzung mit Aspekten, Fragen und Unsicherheiten im Bereich des Sexuellen befähigt Jugendliche. Sexualpädagogik zielt auf einen angstfreien, gewaltfreien und den jeweils anderen anerkennenden Umgang mit Sexualität. Dabei stellt das Sprechenkönnen über eigene Grenzen, das Nein- und Ja-sagen, mithin das Sprechen über Sexualität einen wesentlichen Aspekt von Schutzkonzepten dar.