Eine CD-Box mit unveröffentlichten Liedern von Rio Reiser

Und noch viel mehr

20 Jahre nach dem Tod Rio Reisers erscheint eine CD-Box mit 16 Stunden Musik, darunter viele bisher unveröffentlichte Songs aus dem Privatarchiv des Künstlers.
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Sechs Soloalben hat Rio Reiser zu Lebzeiten veröffentlicht. Nach seinem Tod erschienen fünf Platten und gerade ist noch mal eine Box mit 363 Tracks auf 16 CDs dazugekommen. Auch wenn man die sechs Alben von Ton Steine Scherben mitzählt, ist das posthume Werk Reisers größer als das zu Lebzeiten veröffentlichte. Für so etwas kann es verschiedene Gründe geben: Ein früher, unerwarteter Tod des Künstlers, der mit seinem Material vielleicht noch das eine oder andere anstellen wollte, oder besonders tüchtige Erben, die noch den letzten Seufzer des Verstorbenen zu Markte tragen, oder auch die Liebe von Zurückgebliebenen, die einfach nicht loslassen können und den Künstler irgendwie am Leben zu erhalten hoffen, indem sie ihn weiter singen lassen.
Für so manches Reiser-Produkt der vergangenen Jahre mag es zweifelhafte Motive gegeben haben, wie bei dem obszönen Coveralbum »Alles und noch viel mehr«, das Sony Music im August zu Rio Reisers 20. Todestag herausbrachte und auf dem Flitzpiepen wie Xavier Naidoo und Tim Bendzko sich an den gerechten Ruhm des wichtigsten deutschsprachigen Rock- und Bluessängers heranwanzen. Im Fall der aufwendigen CD-Box jedoch, die nun erschienen ist, kann man davon ausgehen, dass Lutz Kerschowski, Gitarrist und guter Freund Rios, ein immer noch trauernder Liebender ist. In dem schönen, 228 Seiten starken Begleitbuch, ohne das die CD-Box kaum begreiflich wird, finden sich nicht nur zu allen CDs und Songs kleine Geschichten, sämtliche Liedtexte und viele nie zuvor gesehene Fotos aus dem Leben Reisers, sondern Kerschowksi hat auch aufgeschrieben, wie diese Box entstanden ist, wieso er diese Aufgabe übernommen hat und was dies alles ihm bedeutet.
20 Jahre lang hat er über 1 000 Tonbänder aus dem Nachlass Rios durchgearbeitet. In Kooperation mit ehemaligen Scherben-Mitgliedern und zahlreichen anderen Beteiligten wurden die zum Teil schlecht erhaltenen Tonträger zunächst zusammengetragen, sortiert, dann aufwendig digitalisiert und aufbereitet. Die vielfältigen Interessenskonflikte bezüglich der Rechte und die Animositäten verschiedener Erben und Scherben hat Kerschowski geduldig ausgefochten – und das alles, um am Ende ein 16 Stunden dauerndes Opus Rio in die Welt zu setzen, das die Welt nicht braucht.
Aber darum kann es ja nicht gehen. Selbstverständlich braucht die Welt all dieses Material nicht, alle Reiser-Fans werden es dennoch lieben, und das genügt. Eine andere Frage drängt sich jedoch auf: Ist das nicht alles etwas grenzüberschreitend? Ebenfalls im vergangenen Sommer erschien die Rio-Reiser-Biographie »Halt dich an deiner Liebe fest«, in der Gert Möbius Auszüge aus dem Tagebuch seines Bruders Rio dokumentiert. Möbius sagte in diesem Zusammenhang, er habe sich jahrelang gescheut, die Tagebücher überhaupt zu lesen, weil ihm dies zu »intim« erschienen sei, und er zeigte Verständnis dafür, dass andere die Veröffentlichung solcher höchstprivaten, nicht für die Öffentlichkeit gedachten Notizen kritisierten.
Ist nicht auch die Veröffentlichung des musikalischen Nachlasses ein fragwürdiges Eindringen in die Intimsphäre? Zumal wenn sich jemand, wie Reiser es getan hat, so sehr selbst in seine Lieder hineingesungen hat, so authentisch mit seiner Musik verwachsen war. Es gab sicher gute Gründe, weshalb Reiser sich gegen die Veröffentlichung des einen oder anderen Songs entschied, weshalb es dieses oder jenes Fragment eben nicht auf ein Album geschafft hat. Wenn man sich das Mammutwerk der neuen Box anhört, kann man diese Entscheidung bei so manchem Song durchaus nachvollziehen. Damit sind weniger die besonders intimen Frühwerke auf der ersten CD gemeint, die ein 14- oder 15jähriger Reiser in der elterlichen Wohnung mit seiner Gitarre oder am Piano sitzend mit dem ersten eigenen Tonbandgerät aufgenommen hat und die schon das große Talent offenbaren und sehr deutlich den ganz eigenen zärtlich-schnodderigen Stil vorzeichnen, dem er Zeit seines Lebens treu blieb.
Fragwürdiger ist die letzte, die 16. CD mit bisher unveröffentlichten Demosongs aus den achtziger und neunziger Jahren, die zum Teil neu eingespielt und abgemischt wurden und die in der Bewerbung der Box als »Rios Lost Album« bezeichnet werden. Sicher hat Kerschowski als Produzent versucht, wie er selbst schreibt, »so nah wie möglich an Rios Skizzen zu bleiben« und keine Coverversionen entstehen zu lassen. Doch das Begleitbuch erklärt leider nicht, wieso diese Songs auf kein Album gelangten, ob Reiser sich vielleicht bewusst gegen eine Veröffentlich entschieden hatte, und aus welchen Gründen. Wäre es da nicht respektvoller gewesen, dieses Material in den Archiven zu belassen?
Letztlich ist diese Frage aber auch nicht so wichtig. Denn die CD-Box richtet sich sowieso nicht an ein großes Publikum, sondern an Liebhaber, die vermutlich mit dem nötigen historischen Interesse das Gesamtwerk zu würdigen wissen. Und es finden sich ja neben einigen etwas langweiligen Stücken, denen deutlich der letzte Schliff, denen zur Vollendung noch eine zündende Idee fehlt, auf die Reiser womöglich gewartet hat, auch Perlen, wie etwa der grundsolide Song »Ich war da«, der es sicher auch zum Hit hätte bringen können.
Tatsächlich haben wir es hier vor allem mit einer historischen Musiksammlung zu tun, die uns die enorme Schaffenskraft des Musikers offenbart, der nur 46 Jahre alt wurde. Er hat nicht einfach nur immer die nächste Platte aufgenommen, sondern brachte, inspiriert von und im Zusammenspiel mit vielen, vielen Menschen um ihn herum, seine anscheinend endlose Kreativität auch in unzählige andere Projekte ein.
Vor allem Reisers oft unterschätztes umfangreiches Wirken für »Hoffmanns Comic Theater«, aber auch für andere Theaterprojekte wie »Rote Rübe« und »Transplantis«, für Filme und Musicals zeigt, dass es verfehlt ist, ihn auf die Ton Steine Scherben und seine Solokarriere zu reduzieren, wie es oft getan wird. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass durchaus nicht alle 363 Tracks der Rio-Box bisher unveröffentlicht sind, wie die Werbung (»nahezu komplett unveröffentlicht«) suggeriert, sondern zum Beispiel die zwei Alben, die Rio mit Corny Littmanns schwuler Theatergruppe »Brühwarm« aufgenommen hatte, bereits 1977 und 1979 veröffentlicht und 1991 auch noch einmal auf CD herausgebracht wurden.
Mit der neuen XXL-Box dürften zusammen mit der Biographie von Gert Möbius, Reisers Autobiographie »König von Deutschland« (1994) und dem Scherben-Buch »Keine Macht für Niemand« (2000) die Lebensgeschichte Rio Reisers sowie sein musikalisches Werk ziemlich vollständig vor der Öffentlichkeit ausgebreitet sein, nun wird sicher nicht mehr viel kommen. Weniger beachtet wurde bisher die politische Seite. Denn wenn Reiser und die Scherben den »Soundtrack für eine Bewegung« (Reiser) geschrieben haben, woran kaum ein Zweifel bestehen kann, dann ist es natürlich nicht unwichtig zu fragen, welche Bedeutung diese Musik für diese Bewegung wirklich hatte, und auch, welche Bewegung da eigentlich genau beschallt wurde. Wolfgang Seidel, ehemaliger Schlagzeuger der Scherben, hat dazu im Ventil-Verlag 2005 das kritische Buch »Scherben« veröffentlicht, das sich aber eher der Band und ihrer Zeit als der Person Rio Reiser widmet. Dass die Frage, welche politische Aussage das Gesamtwerk Reisers transportiert, bei all den vielen Gedenkartikeln zum 20. Todestag im Sommer bestenfalls randständig beachtet wurde, ist kein Wunder. Denn zu dieser Frage gesellt sich schnell eine weitere: Wie kann es sein, dass der Rebell Rio Reiser heutzutage von allen, wirklich allen geliebt wird, dass er so mehrheitsfähig geworden ist?
Die neue CD-Box wird diese Frage nicht beantworten. Sie besitzt keine Metaebene. Sie dokumentiert schlicht, aber sehr liebevoll bisher Unbekanntes aus dem Leben des Künstlers. Es ist, als wühle man in einer alten Kiste mit Audiokassetten Reisers, die man zufällig auf einem verstaubten Dachboden gefunden hat, wie es Lutz Kerschowski so ähnlich anfangs auch getan hat. Willkommen in Reisers Welt.
Rio Reiser: Blackbox (Möbius Records/Buschfunk)