Ein Besuch in Oberlin, Ohio, wo Hillary Clinton 90 Prozent der Stimmen bekommen hat

Vorwärts in die Vergangenheit

Nicht die Armen, sondern Bürger aus der Mittelschicht mit Abstiegs­ängsten wählten Donald Trump – vor allem in Bundesstaaten, die in der ökonomischen Entwicklung zurückbleiben.

Das kleine College-Städtchen nahe Cleveland in Ohio ist landesweit bekannt für seinen progressiven Geist. Wenn Konservative über die angebliche Diktatur der poltitical correctness schimpfen oder sich über den vermeintlichen Genderwahn beschweren, dann dient ihnen oft Oberlin als Beispiel. Bei der jüngsten Wahl stimmten dort 90 Prozent der Wähler für Hillary Clinton, oft zähneknirschend, da viele Bernie Sanders bevorzugt hätten.
In der Wahlnacht lagen sich die enttäuschten Clinton-Anhänger in den Armen und weinten hemmungslos. In den folgenden Tagen fiel der Seminarbetrieb aus, stattdessen wurde über die Folgen der Wahl diskutiert. Studenten verbrannten die US-Flagge auf dem Campus, die College-Leitung verschickte eine E-Mail, in der sie versprach, sich für den Schutz aller Studierenden einzusetzen.
»Wir sind so schockiert und wissen nicht, was nun passieren wird«, sagt Mila, die Geschichte unterrichtet. Zuletzt habe sie eine solche Stimmung nach dem 11. September 2001 erlebt. Oberlin ist eine Hochburg der LGBTI-Community. Viele haben nun Angst vor Angriffen. Ein nichtweißes Paar erzählt, dass es vor längeren Autofahrten volltanke, um auf dem Land nicht anhalten zu müssen. Studenten ausländischer Herkunft sorgen sich, dass Angehörige ohne Aufenthaltstitel des Landes verwiesen werden könnten, wie Trump es angekündigt hat. »Der ein­zige Vorteil des Wahlergebnisses ist, dass wir nun wissen, wer die Trump-Anhänger sind«, sagt Melanie, die Gesang studiert. »Vorher hatten wie keine Ahnung, dass es so viele sind.«
Dabei muss sie nicht weit fahren, um ihnen zu begegnen. Oberlin ist eine blaue Insel in einem roten Meer. Im Lorain County, zu dem die Stadt gehört, haben über zwei Drittel der Wahlberechtigten für den republikanischen Kandidaten gestimmt, 15 Prozentpunkte mehr als bei der letzten Wahl, in den benachbarten Bezirken betrug der Zugewinn sogar bis zu 25 Prozentpunkte. Während in dem College teils erbittert über linke Identitätspolitik gestritten wird und sich die Debatten um cultural appropriation, also kulturelle Aneignung, oder microaggressions drehen, haben die meisten Einwohner des Bundesstaats kein Problem damit, einen rassistischen und sexistischen Milliardär zu wählen. Außer in den Großstädten sowie einigen wenigen liberalen Bezirken siegte Trump im swing state Ohio mit großem Vorsprung. Am Ende betrug der Abstand zu Clinton fast zehn Prozentpunkte. Hier schwingt nichts mehr, hier sind die Verhältnisse betoniert.
Diese Entwicklung hat den gesamten rust belt erfasst, also Bundesstaaten wie Michigan, Pennsylvania oder Wisconsin, die bei den Demokraten eigentlich als firewall, als sicheres Bollwerk gegen einen Sieg der Republikaner galten. Vor allem männliche Weiße mit geringem Ausbildungsniveau und einem mittleren Einkommen stimmten mit großer Mehrheit für Trump, auch bei den weißen Frauen erhielt er die meisten Stimmen. Zudem erhielt er insbesondere in Florida deutlich mehr Stimmen aus der hispanischen Community als erwartet.
Für Trumps Botschaft waren die Bundesstaaten an den Großen Seen geradezu ideal. Die früheren Zentren der industriellen Produktion in den USA leiden seit geraumer Zeit unter einem fundamentalen Wandel ihrer wirtschaftlichen Struktur. Städte wie Detroit und Cleveland zählten wegen ihrer Automobilindustrie früher zu den reichsten Kommunen in den Vereinigten Staaten. Heutzutage sind sie Orte sozialer und wirtschaftlicher Depression. Bereits Ende der achtziger Jahre drehte Michael Moore, einer der wenigen linken Intellektuellen, die Trumps Sieg vorausgesagt haben, einen Film über seine Heimatstadt Flint. Der Ort nahe Detroit hatte damals etwa die Hälfte der einstigen 80 000 Arbeitsplätze verloren, nachdem General Motors Fabriken nach Mexiko verlagert hatte. Mittlerweile arbeiten in Flint noch 5 000 Beschäftigte in der Industrie.
Dabei sind es nicht die Arbeitslosen oder die working poor, also jene, die deutlich weniger als 50 000 Dollar im Jahr verdienen, die Trump gewählt haben. Diese Schicht, zu der vor allem Migranten und Schwarze gehören, wählte weiterhin mehrheitlich demokratisch. Wer jedoch vor der Wahl durch die Suburbs und ländlichen Regionen im rust belt fuhr, konnte reihenweise Trump-Wahlschilder in den Vorgärten der gepflegten Einfamilienhäuser sehen. Wer hier wohnt, ist nicht arm und abgehängt. Hier leben diejenigen, die Angst davor haben, irgendwann einmal arm zu werden.
Diese Angehörigen der Mittelschicht erleben seit Jahrzehnten einen langsamen, aber stetigen Niedergang, unabhängig davon, ob die Regierung demokratisch oder republikanisch ist. Nach einer Untersuchung des Pew Research Center sanken in den vergangenen 15 Jahren in 203 von 229 US-Metropolenregionen die mittleren Einkommen um ungefähr zehn Prozent. Für viele dieser Durchschnittsverdiener ist der für selbstverständlich gehaltene Lebensstandard nicht mehr oder nur unter großer Mühe aufrechtzuerhalten. Ihre Eigenheime haben während der Immobilienkrise stark an Wert verloren, zugleich fällt es ihnen immer schwerer, die prestigeträchtige Ausbildung ihrer Kinder zu finanzieren.
Diese Schicht, die sich selbst gerne als working class bezeichnet, erinnert dabei nur noch partiell an die tradi­tionelle Arbeiterklasse. Zu ihr gehören Gewerbetreibende, Selbständige in der Versicherungsbranche, Angestellte oder mittlere Beamte. Sie haben Angst vor dem sozialen Absturz und sie verachten die Unterschicht, weil sie diese mit ihren Steuern alimentieren müssen. »Obamacare« ist ein Symbol dafür – die Krankenversicherung ist für untere Einkommensgruppe noch erschwinglich, während die Beitragszahlungen für durchschnittliche Verdiener sukzessive steigen.
Trump offeriert diesen Wählern eine »Retropia«, wie es der polnisch-britische Soziologe Zygmunt Bauman nennt: eine Utopie, in der die Vergangenheit glorifiziert wird, als die vorwiegend weiße Mittelschicht noch die wirtschaftlichen und politischen Geschicke des Landes bestimmte. Dabei begann der Niedergang der Mittelschicht tatsächlich mit der marktradikalen Wirtschaftspolitik, die unter US-Präsident Ronald Reagan (1981–89) durchgesetzt wurde. Sie führte zu einer Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu Lasten des weniger wohlhabenden Teils der Bevölkerung. Die Angehörigen der Mittelschicht projizieren ihre Abstiegsängste nun auf Migranten, Afroamerikaner und Hispanics, von denen sie glauben, dass sie ihren Wohlstand gestohlen hätten.
Das Team um Clinton hat diesen Hass, der sich vor allem in den ländlichen Regionen und in den Vororten verbreitet hat, unterschätzt. Während Trump seinen Wahlkampf auf den rust belt konzentrierte, trat Clinton beispielsweise in Staaten wie Wisconsin und Michigan, in denen ihr Sieg sicher schien, kaum in Erscheinung.
Die Demokraten sprachen stattdessen Minderheiten und urbane Wähler an, die vorwiegend in den Küstenmetropolen zu Hause sind. Die demokratischen Hochburgen liegen nicht mehr in den industriellen Regionen, sondern fast ausschließlich in den Finanz- und Handelszentren im Osten, in den High-Tech-Agglomerationen an der Westküste und einigen Großstädten im Süden der USA. So hatten insbesondere die IT-Konzerne des Silicon Valley den Wahlkampf der Demokraten großzügig unterstützt.
Doch die neuen Industrien können auf dem Arbeitsmarkt die alten fordistischen Wirtschaftsstrukturen kaum ersetzen. Alphabet (vormals Google) erzielt zwar den fünffachen Börsenwert dessen, was Chrysler, General Motors (GM) und Ford zusammenbringen. Die 60 000 Beschäftigten des IT-Unternehmens entsprechen aber nur einem Bruchteil der Belegschaft der großen Autokonzerne. »Was gut ist für General Motors, ist gut für die Vereinigten Staaten«, hieß der Wahlspruch des früheren GM-Präsidenten Charles Wilson. Von Palo Alto aus gesehen sind der Mittlere Westen und der rust belt jedoch unwichtig im Vergleich zu Südostasien oder Lateinamerika. Apple und Microsoft lassen ihre Computer und Mobiltelefone billig in China, Taiwan und Brasilien produzieren. Nur ein verhältnismäßig kleiner Kreis gut bezahlter Angestellter werkelt in Kalifornien am Design und Know-how der postindustriellen Zukunft.
Auch deswegen betrachtet man in Michigan und Ohio die dortige Entwicklung mehr als skeptisch. So werden die etwa 3,5 Millionen LKW-Fahrer in den USA von der Aussicht auf autonom fahrende Google-Autos nicht nur begeistert sein. Als der Schriftsteller T. C. Boyle nach der Wahl sagte, noch nie seit dem Bürgerkrieg seien die Vereinigten Staaten so gespalten gewesen wie derzeit, beschrieb er damit vor allem die ökonomische Teilung des ­Landes.
In Oberlin und vielen anderen Universitätsstädten fordern Studierende und Lehrkräfte nun, die Campus zur sicheren Zufluchtsstätte für Migranten zu machen. Die Bildungseinrichtungen sollen den Immigrationsbehörden keine Informationen mehr liefern und sich Abschiebungen widersetzen. Die Trump-Gegner müssen sich auf einen langen Kampf einstellen.