Eine »weiße Arbeiterklasse« gibt es nicht

Wenn das Wunsch­denken über das Denken siegt

Der Begriff der »weißen Arbeiterklasse« ist ein Konstrukt. Damit kann der Wahlsieg Donald Trumps nicht analysiert werden.

Eine Schlüsselrolle für den Ausgang der Wahl des neuen US-Präsidenten, so heißt in vielen Wahlanalysen der vergangenen Tage, habe die »weiße Arbeiterklasse« gespielt: Sie habe, entgegen der Empfehlung der Gewerkschaften, mehrheitlich für Trump gestimmt. Industriell geprägte US-Bundesstaaten, in denen jahrzehntelang Arbeitsplätze verloren gingen, hätten sich von den Demokraten abgewandt. Um die Folgen der Deindustrialisierung habe sich die Politik nicht gekümmert. Verbitterte Stahlarbeiter, enttäuschte Automobilbauer, arbeitslose Textilarbeiter, alte weiße Männer und Frauen, die ihr Leben lang hart arbeiteten, hätten jegliches Vertrauen in das Establishment verloren. Wir kennen das aus dem einheimischen Diskurs über die »Alternative für Deutschland« (AfD).
Wohlbekannt war auch der Inhalt der meisten Kommentare zum Wahlausgang. Die sogenannten Eliten hätten den Kontakt zum Volk verloren, sie verhielten sich oberlehrerhaft, wer nicht ihrer Meinung sei, werde ausgegrenzt. Man kann es kaum mehr hören, bedeutet es doch nichts anderes, als dass die Rechts­populisten noch mehr Zuwendung erhalten sollten. Es kam noch peinlicher. Medienvertreter entschuldigten sich dafür, den Sieg von Donald Trump nicht vorhergesagt zu haben. Politiker bereuten, anlässlich der Fluchtbewegungen zu wenig über Terrorismus gesprochen zu haben. Manche finden sogar ein Bekenntnis zu Demokratie und Menschenwürde arrogant, elitär, volksfern. Kurz: Das Establishment bittet die Rechtspopulisten um Verzeihung. Aber denen reicht das nicht.
Manche Linke versuchen, mit kühnem Schwung an die Spitze der Bewegung zu gelangen, denn wenn die ­weiße Arbeiterklasse die US-Wahl entschieden habe, dann wäre es ja ein Erfolg des Klassenkampfs, ein Aufbegehren des Proletariats, auf das man so lange gewartet hat. Was aber soll man unter dem Begriff der white working class verstehen? Gegen Wortschöpfungen wie »weiße Stahlarbeiter« oder »weiße Arbeitslose« wäre einiges einzuwenden, aber sie sind wenigstens nicht völlig konstruiert. Es gibt tatsächlich Industrieregionen, in denen fast ausschließlich weiße Personen beschäftigt werden. Wenn sie arbeitslos werden, sind sie weiße Arbeitslose, weil Nichtweiße gar nicht erst eingestellt worden sind oder in der Arbeitslosenstatistik nicht berücksichtigt werden. Bei einer Klasse handelt es sich freilich um eine soziologische Kategorie, der eine mehr oder weniger gute, aber jedenfalls eindeutige Definition zugrunde liegt. Für diese Definition ist die Stellung im Produktionsprozess maßgeblich; das Attribut Hautfarbe ergibt dabei ungefähr so viel Sinn wie eine »duftende Sonne« oder »witziger Schnee«. Eine auf Klassen basierende Gesellschaftstheorie, die im Allgemeinen von Linken und insbesondere von Marxisten vertreten wird, schließt eine weiße Arbeiterklasse ebenso aus wie ein jüdisches Kapital.
Umgekehrt muss sich niemand dümmer stellen, als er oder sie ist. Gesellschaftstheorien, denen die weiße Hautfarbe als maßgebliches Unterscheidungsmerkmal dient, sind rassistische Theorien. Die Rede von der weißen Arbeiterklasse vermischt also etwas Linkes und etwas Rechtes. Sie kennzeichnet einen linken Rassismus oder einen rassistischen Marxismus. Sie passt zu den Strategen einer Querfront, also eines Volksaufstands, der Linke und Rechte vereinen und quer zu den herkömmlichen politischen Milieus verlaufen soll.
Bei Oskar Lafontaine erzeugt die weiße Arbeiterklasse wahrscheinlich Gefühle, die sein Herz erwärmen. Die amerikanischen Wählerinnen und Wähler hätten das System abgewählt, verkündete er in der Sendung »Maischberger-Talk« am 9. November. Sie hätten gegen die Banken, Großunternehmer und korrupten Eliten gestimmt. Fraglich sei nur, was Trump daraus machen könne. Schon vier Wochen zuvor hatte sich ein prominenter US-amerikanischer Linker, Noam Chomsky, ähnlich geäußert: »Die Unterstützer von Trump sind nicht die Armen. Die meisten stammen aus der weißen Arbeiterklasse und wurden in der Periode des Neoliberalismus beiseite geworfen. Jetzt sind diese Menschen verbittert und nachtragend.« Chomsky identifiziert eine Arbeiterklasse, die weiß ist, und daneben ein Kollektiv von Armen, das keine Klasse bildet. Er hofft, Trumps Anhängerinnen und Anhänger könnten sich mit denen von Bernie Sanders zu einer »streitbaren Arbeiterbewegung« zusammenschließen und »etwas ganz Neues« schaffen. Denn die beiden Gruppen teilten »im Kern dieselbe Wut über den Angriff auf die weiße Arbeiterklasse und auf die Armen«.
Chomsky und Lafontaine können es kaum erwarten, sich mit den vermeintlich oder tatsächlich Abgehängten zu verbrüdern. Sie sind jederzeit bereit, auf sie zuzugehen, ihren Worten zu lauschen und diese als Sehnsucht nach sozialer Gerechtigkeit zu interpretieren. »Nehmt die Leute ernst!«, predigen sie. Nur: Was Trump im Wahlkampf versprochen hat und wofür ihn die Leute gewählt haben, braucht man offenbar weniger ernst zu nehmen. Das sei das übliche Wahlkampfgetöse gewesen, heißt es. Warum war es dann dieses und kein anderes Getöse? Warum hat Trump diese und keine anderen Parolen verkündet? Einerseits, weil er selbst von ihnen überzeugt ist, andererseits aber auch, weil seine Anhänger genau das von ihm hören wollten. Trump hat bestimmte Affekte bedient. Dafür erhielt er Zustimmung. Hillary Clinton wollte und konnte diese Affekte nicht bedienen: Sie war ja das personifizierte Objekt der Affekte.
Wenn es die Gruppe weißer Arbeiter wirklich gibt, wenn sie mehrheitlich Trump gewählt und damit den Ausschlag für seinen Wahlsieg gegeben hat, und wenn man sie wirklich ernst nehmen möchte, dann muss man sich mit den zentralen Forderungen auseinandersetzen, die bei Trumps Anhängern auf Begeisterung gestoßen sind.
Da ist zum Beispiel der fanatische Ruf nach einem Recht auf uneingeschränkten Waffenbesitz. Er passt schlecht in das sozialromantische Bild, das manche von Trumps Wählern zeichnen. Denn die Waffen dienen diesen Leuten zum »Schutz« gegen die Armen, die sie für Dealer, Diebe und Vergewaltiger halten. Womöglich wollen sie sich auch Flüchtlinge vom Leib halten.
Unüberhörbar und unmissverständlich war auch Trumps Eintreten für mehr Rüstung und eine Stärkung des Militärs. Es ist kurios, dass seine Anhänger bereit sind, Steuern an das korrupte Establishment abzuführen, wenn sie dem Militär gutgeschrieben werden. In dieser Hinsicht haben sie das System ausdrücklich nicht abgewählt. Washington nein, Pentagon ja. Für das, was die unverstandenen Menschen so verbittert, die Ausstattung von Straßen, Häusern, Wohnungen, Schulen, ist dann kein Geld mehr da.
Umjubelt war Trumps Parole, die Krankenversicherung abzuschaffen. ­Jeder ist sich selbst der Nächste, keiner soll auf Kosten der Gesellschaft versorgt werden. Diese Haltung ist das Gegenteil einer sozialen Einstellung. Wer allerdings andere beiseite schiebt, kann sich schlecht beklagen, wenn er selbst beiseite geschoben wird.
Punkt für Punkt kann und muss man auch prüfen, ob es sich bei Trumps Wahlsieg um einen Schrei nach sozialer Gerechtigkeit handelt, um ein Aufbegehren gegen das System. Man kann das Ergebnis vorwegnehmen: Diese Bewegung ist sozialfeindlich. Es passt, dass sie von einem asozialen Milliardär angeführt wird.
Das Neue, auf das Chomsky hofft, wird sich rasch als soziale Demagogie entpuppen. Jeder zweite autoritäre Herrscher, ob Mahmoud Ahmadinejad oder Hugo Chavez, Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan, lässt die Massen jubeln, wenn er an die starken, hart arbeitenden, stolzen und patriotischen Arbeiter appelliert, die so viel für die Nation geleistet und so wenig dafür bekommen hätten, und ­denen der Führer dafür persönlich die Ehre erweist.
Wer Lafontaine sprechen hörte und seine blauen Augen erwartungsvoll aufleuchten sah, kann eines der großen historischen Rätsel etwas besser verstehen. Unbegreiflich, unfassbar, irrwitzig erscheint es heutzutage, wie die wirklichen Arbeiterparteien der Weimarer Republik auf den Nationalsozialismus hereinfielen. Wie sie bis zuletzt alles Mögliche bekämpften, über alles Mögliche stritten und ihren jeweiligen Hauptfeind überall ausmachten, nur nicht bei Hitler und seinen Truppen. Aber so muss es wohl gewesen sein: Sie hatten eben auch die sogenannten Unverstandenen im Sinn, die Abgehängten und Vergessenen. War deren Aufstand nicht ein Aufstand gegen das gleiche System von Ausbeutung und Korruption, das diese Parteien selbst bekämpften? Haben die Abgehängten nicht auch das Establishment abgewählt? Wie konnte man sie also als Feinde ansehen? Chomsky und Lafontaine, stellvertretend genannt für viele andere, erliegen der gleichen Versuchung, obwohl sie die Geschichte der Arbeiterbewegung kennen und wissen, wie sich die Umworbenen bei der SPD und der KPD bedankten. Dieser Auseinandersetzung helfen weder Wunschdenken noch Anbiederungsversuche, sondern sie bedarf des Muts zur Kon­troverse.