Chemnitzer Rechtsextreme wollen nach Dortmunder Vorbild einen Nazikiez etablieren

Plenum ohne Küfa

In Chemnitz kopieren Rechtsextreme die Strategie des Dortmunder Neonazimilieus und das Erscheinungsbild linker Autonomer.

»Kampf gegen Neonazibande in Chemnitz« betitelte die Bild-Lokalausgabe Anfang November einen Artikel über die derzeitige Situation in der drittgrößten Stadt Sachsens. Zwei Tage später legte die Zeitung nach: »Unterschätzt die Polizei diese Neonazis?« Anlass für diese und weitere Schlagzeilen ist das sogenannte Rechte Plenum, das vor 16 Monaten gegründet wurde. Nachdem die wichtigsten Mitglieder dieser rechtsextremen Organisation neuen Typs auf der linken In­ternetplattform Indymedia geoutet worden waren, berichtete auch die Chemnitzer Lokalpresse. Die Rechts­extremen wollen unter anderem im Stadtteil Sonnenberg einen »Nazikiez« etablieren. Ähnlich wie in Dortmund-Dorstfeld versuchen die Anführer des Rechten Plenums einen Stadtteil unter ihre Kontrolle zu bringen – in diesem Fall das Viertel um das Stadion des Fußballdrittligisten Chemnitzer FC. Das Konzept der »national befreiten Zonen« tauchte erstmals Anfang der neunziger Jahre in Zeitschriften der NPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten und des Nationaldemokratischen Hochschulbunds, der Studentenvereinigung der NPD, auf. Es zielt auf die Erringung von sogenannten Freiräumen, in denen die Neonazis »faktisch die Macht ausüben«, in denen sie in der Lage sind, »Abweichler und Feinde« zu sanktionieren und sie mittels körper­licher Gewalt zu »bestrafen«, wie es bereits 1991 im Naziblatt Voderste Front formuliert wurde.
In Chemnitz haben sich die Neonazis mit dem Sonnenberg ein Viertel aus­gesucht, in dem es bereits rechte Treffpunkte gibt. Dort befinden sich der ­Recherchegruppe »Avocado« zufolge rund um das Stadion die entsprechenden Szenekneipen, zudem seien die Mieten in dem Kiez sehr niedrig. Es gibt noch einen weiteren Grund dafür, dass die Nazis sich diese Gegend aus­gesucht haben. »Die kritische Zivil­gesellschaft ist eher schwach«, so die Recherchegruppe. In großer Zahl kleben an Laternenmasten und Parkbänken Aufkleber mit Bezug auf die rechtsextreme Hooligan-Gruppe »New Society« oder mit Schriftzügen wie »I love NS«. »An eine Kirchenmauer wurde großflächig ›Wir wollen leben. NS jetzt‹ gesprüht«, berichtete beispielsweise das Informationsportal Endstation Rechts.
Das Handeln der Chemnitzer Neonazis folgt dem Konzept des seit mindestens zehn Jahren bestehenden Stadtteilprojekts von Dortmunder Nazis in dem Viertel Dorstfeld. Der Recherchegruppe »Avodaco« zufolge übersiedelten die Mitglieder des Rechten Plenums gezielt auf den Sonnenberg und ließen sich dort rund um den Lessingplatz nieder. Die Wohnsitze der Gruppenmitglieder konzentrieren sich ­dabei auf zwei Wohnblocks an diesem Platz. Laut »Avocado« wurde dem Rechten Plenum dort von einem seiner ­Mitglieder eine Wohnung zur Verfügung gestellt, die als Rückzugsraum für Gewalttäter diente. Die anderen aus Chemnitz stammenden Mitglieder wohnen demnach ebenfalls nicht weit entfernt.
Die Ähnlichkeit der Konzepte in Dortmund und Chemnitz ist kein Zufall. Die Neonazis aus beiden Städten pflegen sehr gute Kontakte. Zwei Chemnitzer Führungspersonen be­tätigten sich gemeinsam in der Kameradschaft »Besseres Hannover« und zogen in den vergangenen zwei Jahren in die sächsische Stadt. Beide haben Verbindungen zu militanten Neonazis im ­gesamten Bundesgebiet. Auch in anderen ostdeutschen Städten gibt es Bestrebungen, einen Nazikiez nach Dortmunder Vorbild zu etablieren. So versuchen Neonazis zum Beispiel im sachsen-anhaltinischen Salzwedel, im sächsischen Bautzen, im mecklenburgischen Rostock und im sächsischen Erzgebirge ähnliche Strategien anzuwenden.
Das Rechte Plenum nutzt die Kontakte der »Nationalen Sozialisten Chemnitz (NSC)«. Einige ehemalige Mitglieder dieser 2014 vom sächsischen Innenminister verbotenen Organisation sind auch Mitglieder der neuen Vereinigung. Weitere Überschneidungen gibt es mit den »NS-Boys«, die auch unter dem ­Namen »New Society« bekannt sind. Der Chemnitzer Recherchegruppe zufolge haben besonders die älteren, aus Chemnitz stammenden Mitglieder ­Verbindungen zu den NS-Boys. Die Nähe zur Hooligan-Szene werde außerdem durch die Postings einiger Mitglieder in den sozialen Netzwerken dokumentiert. Dort fänden sich zahlreiche Selfies aus dem Stadion.
Einen Tag vor dem Outing der Mitglieder des Rechten Plenums schrieben die NS-Boys auf Facebook, in Dortmund habe »eine willkürliche und völlig überzogene Hausdurchsuchung« stattgefunden. Betroffen sei ein Anhänger des Chemnitzer FC, Anlass soll eine gewalttätige Auseinandersetzung nach dem Auswärtsspiel des Drittligisten im Dezember 2015 in Rostock ge­wesen sein. Der Dortmunder Chemnitz-Fan wohne in einem Haus, von dem bekannt sei, dass es »mehrheitlich von Nationalisten bewohnt« werde, wie das rechtsextreme Infoportal Dortmund-Echo schrieb. Der Fall zeigt, dass die ­informellen Verbindungen zwischen rechtsextremen Fußballfans auch ­unterschiedlichen lokalen Nazigruppen bei der Kontaktaufnahme helfen.
Im Mai organisierte das Rechte Plenum für seine Klientel eine »Demoschulung«, bei der gemeinsam geübt werden sollte, wie man Polizeiketten durchbricht. Wie bei Fußballfans üblich, stellten sich die Teilnehmer für ein »Mobfoto« mit Pyrotechnik auf, zudem wurde ein Video gedreht. Sowohl Bild als auch Filmchen wurden auf den Plattformen Tumblr, Twitter und Instagram verbreitet. Diese Art der Präsentation ist für die einstmals konspirativ vorgehende Szene der »Autonomen Nationalisten« ist neu. Zwar ist der Style noch derselbe wie früher, mit der Selbstpräsentation in den sozialen Medien schlägt man aber neue Wege ein. Der virtuelle Auftritt der Chemnitzer Neonazis löste einen Nachahmungs­effekt aus, der sich nicht nur auf die Region beschränkt. Antifaschisten aus Salzwedel berichteten verwundert über die Teilnahme von »Fußsoldaten und Schlägern« an der Schulung, die in »den letzten zwei bis drei Jahren, seit sie auf unserem Radar aufgetaucht sind, nie wirklich politische Arbeit geleistet« hätten.
Vor gut drei Wochen, nur vier Tage nach dem Outing der Kader des Rechten Plenums, kam es zu einem Sprengstoffanschlag auf das Kulturzentrum Lokomov in Chemnitz. Der oder die ­Täter konnten unerkannt flüchten. Die Polizei ermittelte zunächst nur wegen Sachbeschädigung. Doch schnell übernahm das Operative Abwehrzentrum (OAZ) die Untersuchung des Anschlags. Das OAZ ist eine Zentralstelle des polizeilichen Staatsschutzes des Freistaats für die Ermittlung »extremistisch ­motivierter Straftaten«. Die Betreiber des Kulturzentrums gehen von einer rechtsextrem motivierten Tat aus – unter anderem, weil das Lokomov an dem Chemnitzer Theaterprojekt »Unentdeckte Nachbarn« beteiligt ist, das sich mit dem NSU-Komplex beschäftigt.
Im Lokalblatt Neue Presse wurde über einen Racheakt wegen des Outings spekuliert. Die Chemnitzer Grünen-­Politikerin Petra Zais sieht hingegen die Schwelle zum Terrorismus überschritten. »Mit diesem traurigen Höhepunkt einer ganzen Reihe von Angriffen auf Einrichtungen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren, ist eine neue Ebene der politisch motivierten Gewalt aus der rechten Szene erreicht«, sagte sie dem Tagesspiegel. Offiziell hat sich das Rechte Plenum für de facto aufgelöst erklärt. Per Twitter teilten die Rechtsextremisten mit: »Rechtes Plenum eingestellt. Kein weiterer Aktivismus. Weder theoretisch noch praktisch.« Viele Social-Media-Profile der geouteten Mitglieder wurden deaktiviert, gelöscht oder umbenannt. Möglicherweise wollte die Gruppe damit einem drohenden Verbot ­entgehen.