Der DGB und eine Hausbesetzung in Göttingen

Erfolgsgeschichte Hausbesetzung

In Göttingen wird ein selbstverwaltetes Wohnprojekt für Geflüchtete und Wohnungslose realisiert.

Ironischerweise müsste man Hartmut Tölle, den niedersächsischen Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), eigentlich zu einem Unterstützer einer Gruppe Göttinger Hausbesetzer erklären. Die waren im November vergangenen Jahres in ein leerstehendes Gebäude in der Oberen-Masch-Straße 10 in der Göttinger Innenstadt eingezogen und hatten dort unter dem Namen »Our House«, kurz »die OM10«, ein selbstverwaltetes Wohnprojekt für Geflüchtete und Wohnungslose initiiert. Von einer »widerrechtlichen Besetzung« hatte Tölle im Januar gesprochen und alternative Pläne zur zukünftigen Nutzung des Gebäudes vorgestellt, das bis 2009 als Zentrale des Göttinger DGB diente. Auch das Anliegen der Besetzer schien ihm nicht zu gefallen, vielmehr sei seiner Wahrnehmung nach die »Neigung, Flüchtlinge in der Altstadt zu haben, nicht so ausgeprägt«, wie er dem Göttinger Tageblatt sagte.
Nicht zuletzt das Spiel mit dem rassistischen Ressentiment, das aus Tölles Aussagen klang, kam in der Öffentlichkeit nicht gut an. Parteien, politische Initiativen und Universitätsangehörige widersprachen seinem Eindruck und verwiesen stattdessen auf die wertvolle Arbeit der OM10, in der mittlerweile die ersten Geflüchteten Unterkunft und solidarische Unterstützung gefunden hatten. Auch von der gewerkschaftlichen Basis wurde Tölles Vorhaben, sich der Besetzer zu entledigen, kritisiert.
Letztlich brachte wohl auch diese breite Welle der Empörung über Tölles Vorstoß die Verantwortlichen im DGB dazu, Verhandlungen mit den neuen Bewohnern aufzunehmen, welche ihrerseits eine Legalisierung des Projektes anstrebten. Mitte Oktober konnten die Bewohner dann einen erfolgreichen Abschluss der Gespräche verkünden. »Mit dem Hauskauf wird das Gebäude für immer dem Spekulationsmarkt entzogen und somit auf Dauer als politisches Zentrum und Raum für selbstverwaltetes Wohnen gesichert«, schreiben die Besetzer in einer Pressemitteilung. Man werde das Haus zu einem Preis erwerben, »der sich nicht am Immobilienmarkt, sondern an dem politischen Charakter des Projekts orientiert«.
Die politische Verantwortung des DGBs hatten die Besetzer seit Beginn ihrer Aktion angemahnt. Das Gebäude steht auf dem Gelände der ehemaligen Synagoge und wurde dem Gewerkschaftsbund von der jüdischen Gemeinde übertragen. Die Unterstützung ihres Projekts durch den Eigentümer stellte für die Besetzer auch deshalb die grundlegende Prämisse in den Verhandlungen um den Status der Immobilie dar. Bei der DGB-eigenen Vermögensverwaltungsgesellschaft, mit der ein Großteil der Gespräche zu führen war, stieß man damit zunächst auf Unverständnis, wie Felix, einer der Teilnehmer auf Seiten der OM10 der Jungle World sagte. Der politische Druck, der durch die breite öffentliche Unterstützung einer Legalisierung entstanden sei, habe ein Einlenken des DGB bewirkt. »Eine Räumung unseres Hauses konnte sich der DGB nicht mehr erlauben«, sagt Felix.
Anfang November konnten Mitglieder und Sympathisanten des Projekts so nicht nur dessen ersten Geburtstag, sondern zugleich dessen Fortbestand feiern. Dies wird auch die zahlreichen Geflüchteten freuen, die im Laufe dieses Jahres dort untergekommen sind. Derzeit leben etwa 15 Geflüchtete in den Wohngemeinschaften und Wohnungen des Hauses. Mit fortschreitender Sanierung des Hauses könnten es noch einige mehr werden. Neben der Nutzung als Wohnraum soll die OM10 aber auch weiterhin soziales, kulturelles und politisches Zentrum bleiben und Platz für migrantische Selbstorganisierung und antirassistische Gruppen bieten. Sowohl die Unterstützer, als auch die Bewohner der OM10 sind in die basisdemokratische Organisierung des Hauses eingebunden. Einzelne Gruppen übernehmen darüber hinaus etwa die Planung der zukünftigen Finanzierung.
Die OM10 steht im Zusammenhang mit anderen antirassistischen Aktivitäten in der Universitätsstadt. Besonders die behördliche Praxis der Massenunterbringungen wurde kritisiert. Als zahlreiche Geflüchtete im Sommer aus der Innenstadt in eine ehemalige Lagerhalle am Rande Göttingens verlegt wurden, in denen einzelne Wohneinheiten lediglich durch Stellwände abgetrennt waren, regte sich breiter Protest, der nicht zuletzt durch die Besetzenden aus der OM10 organisiert wurde. Auch mit der anstehenden Legalisierung soll es um ihre Forderungen nicht ruhiger werden, die nicht nur auf den Leerstand des ehemaligen DGB-Hauses, sondern auf eine »skandalöse Wohnungspolitik« insgesamt zielten, wie es im Statement zum Hauskauf heißt. In diesem Sinne suchten die Besetzter zahlreiche Kontakte zu ähnlichen Initiativen andernorts, etwa dem »Project Shelter«, das ein selbstorganisiertes Zentrum für Geflüchtete und Migranten in Frankfurt am Main aufbauen möchte. Auch in Köln und Leipzig gab es Besetzungen aus der antirassistischen Szene; hier tauschte man Erfahrungen aus.
Unterdessen hat mit dem Abschluss der Verhandlungen zwischen den Besetzern und dem DGB ein neues Kapitel für die OM10 begonnen. Auch wenn der Kaufpreis für das Gebäude verhältnismäßig niedrig sein soll, muss dieses Geld erst einmal aufgebracht werden. Weitaus größere finanzielle Mittel werden außerdem für die anstehende Renovierung benötigt. Neben den Einnahmen aus der Miete, die einige Bewohner zahlen, sollen dafür Direktkredite und Spenden eingeworben werden. Einen wichtigen Schritt hat man mit der Gründung einer GmbH, die der künftigen Verwaltung dienen soll, bereits getan. »Wir möchten damit Teil des Mietshäusersyndikats werden, auch um den politischen Charakter des Hauses langfristig sicherzustellen«, berichtet Felix. Eine solch rasante Entwicklung hätten vor einem Jahr die Besetzerinnen und Besetzer wohl selbst nicht für möglich gehalten.