sexueller Missbrauch im englischen Fußball

Das Ende des Schweigens der Missbrauchten

Es sind keine Einzelfälle – fast täglich melden sich neue Opfer zu Wort, die in englischen Fußballvereinen als Jungen sexuell missbraucht wurden.

Es sei »nicht einfach« für ihn, »zu ­reden«, sagt Paul Stewart im Video. Und dann redet er doch, mit kleinen Pausen, die er wegschiebt, vielleicht in dem Wissen, dass jetzt die Gelegenheit gekommen ist, zu sprechen, all die Dinge auf den Tisch zu legen, eine Gelegenheit, die nicht wiederkommt. Die Zeitungsartikel hätten ihn dazu gebracht, sagt der ehemalige englische Nationalspieler Stewart, »und ich habe beschlossen, meine Geschichte zu erzählen«. Mit Begrapschen im Auto auf dem Weg vom Training habe alles angefangen. Sein Jugendtrainer habe ihn immer vom Training nach Hause gefahren, netter Service für seine Jungs. Und irgendwann, da war Stewart elf Jahre alt, habe der Trainer begonnen, ihn sexuell zu belästigen.
»Von der Reaktion der Jungs hat er abhängig gemacht, wen er als Opfer nimmt. Ich hatte Todesangst. Ich wusste nicht, was ich tun sollte.« Schnell rutschte er in eine Abhängigkeit, aus der es keinen Ausweg zu ­geben schien. »Er hat gedroht, meine Familie zu töten, wenn ich ein Wort davon sage«, so schildert es Stewart. Also schwieg er. Über Jahrzehnte. Erst vergangene Woche hat der Ex-Nationalspieler sein Schweigen öffentlich gebrochen.
Paul Stewart ist der prominenteste, aber bei weitem nicht der einzige Fall in einem Missbrauchsskandal, der gerade den englischen Fußball erschüttert. Eine Reihe von englischen Profis hat in den vergangenen Wochen schwere Vorwürfe gegen Jugendtrainer erhoben. Alles begann mit Andy Woodward, der in der dritten und vierten Liga aktiv war und dem Guardian berichtete, über Jahre systematisch von seinem Trainer missbraucht worden zu sein. Im Tagestakt meldeten sich weitere ­Spieler zu Wort; mittlerweile haben über 20 Spieler Anschuldigungen ­erhoben, es wird gegen 17 Personen ermittelt. Längst ist aus vermeint­lichen Einzelfällen ein Skandal geworden. »Ich glaube, es werden Hunderte betroffen sein«, so Paul Stewart. Die Befürchtung vieler Opfer und Beobachter: Der Missbrauch sei quer durch die Jugendabteilungen und Clubs gegangen. Und oft vertuscht worden.
Ein Name fällt dabei immer wieder: Barry Bennell, der Jugendtrainer, der auch Woodward missbrauchte. Bennell war beim Viertligisten Crewe Alexandra tätig, arbeitete aber unter anderem auch für Manchester City. Seine Pädophilie soll bekannt gewesen sein; Stewart berichtete etwa, der Trainer, der ihn missbrauchte, habe auf Bennell Bezug genommen. Der mache das ja auch, deshalb sei das okay. Crewes früherer Teammanager Dario Gradi dagegen betont, nichts gewusst zu haben. Erst 1994 wurde Bennell in den USA wegen sexuellen Missbrauchs von Jungen verhaftet und zur ersten von insgesamt drei Gefängnisstrafen verurteilt. »Ich kann einfach nicht glauben, dass die Trainer nicht irgendwie miteinander zu tun hatten«, sagt Stewart. Der ebenfalls betroffene Jason Dunford sprach von einem »Pädophilenring« im englischen Fußball.
Wie viel wusste der Fußballverband FA, wie viel wussten die Vereine? Der Telegraph will herausgefunden haben, dass von Clubs Schweigegeld an ehemalige Spieler gezahlt wurde, die im Gegenzug unterschreiben mussten, mit ihrer Missbrauchsgeschichte nicht an die Öffentlichkeit zu gehen. Auch ein Verein aus der Premier League soll darunter sein. Die Clubs hätten Angst vor drohenden Ent­schädigungszahlungen. Bewiesen ist das nicht. Bei einer eigens eingerichteten Hotline für die Missbrauchsfälle gingen derweil bis jetzt über 100 Anrufe ein. Andy Woodward sagte in einem Interview, seine Geschichte sei nur »die Spitze des Eisbergs«. »Es ist ein Skandal, dass Crewe Alexandra so lange gebraucht hat, um sich überhaupt mit dem Problem zu befassen.«
Chris Unsworth, auch ein Opfer Barry Bennells, warf den Verantwortlichen vor, bewusst weggeschaut zu haben. Zumindest die Rolle von Crewe Alexandra wirft mittlerweile Fragen auf: Hamilton Smith, Ende der achtziger Jahre in der Führungs­etage des Vereins, gab zu, man habe Gerüchte über die Pädophilie Bennells gehört, aber entschieden, ihn nicht zu feuern – unter der Bedingung, dass Bennell keine Zeit mehr allein mit den Jungen verbringe und keine Übernachtungen mehr in die Wege leite. So konnte ein Trainer, der mutmaßlich mehrere Schutzbefohlene missbrauchte, noch Jahre am ­alten Arbeitsplatz weitermachen.
Dass einer wie Barry Bennell so lange ungestört walten konnte, mag auch mit den Eigenheiten des Ver­einswesens zu tun haben. »In Sport­vereinen gibt es oft eine große Solidarität unter Mitgliedern«, sagt Ilka Villier von Zartbitter e.V., einer Informationsstelle gegen Missbrauch an Jungen und Mädchen in Deutschland. »Da scheuen sich viele, laut einen Verdacht gegen jemanden zu äußern.« Daten zum Kindesmissbrauch in Sportvereinen gebe es ­wenige, weil viele Statistiken nicht auflisten würden, ob der Missbrauch in einem Verein oder woanders stattgefunden habe. Auch sei gerade sexueller Missbrauch von Jungen noch ein Tabu-Thema: »Es wird vielfach nicht daran gedacht, dass auch Jungen potentielle Opfer sein können.«
Dabei gelten gerade Sportvereine als Risikofeld für Übergriffe. »In einem Sportverein haben Erwachsene und Kinder oft eine besonders enge Bindung«, so Villier. »Beim Training sind körperliche Hilfestellungen ­nötig, es gibt gemeinsame Trainingsfahrten mit Übernachtungen.« Das heiße aber nicht, dass Jugendtrainer eher zu Pädophilie neigten. Eher sei es so, dass Menschen mit pädokrimineller Neigung solche Tätigkeiten ­gezielt suchen würden, weil sie wüssten, dass sie hier nahe an potentiellen Opfern seien. »Der Zugang zu Kindern im Sport ist sehr einfach», sagt auch Ex-Nationalspieler Paul Stewart. »Ein Sportverein ist der perfekte Nährboden.«
Stewart selbst erlitt nach eigenen Angaben vier Jahre lang sexuelle Übergriffe durch seinen Jugendtrainer. »Der Missbrauch wurde immer schlimmer.« Spielte er schlecht, habe er dafür büßen müssen, auch Gewalt sei ihm angedroht worden. Um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, habe der Trainer sich mit Stewarts Eltern angefreundet. »Und heimlich hat er mich bedroht, ihnen nichts zu sagen.« Der Junge versuchte, sich stumm mitzuteilen, zog sich ein Jahr komplett zurück. Laut etwas sagen, das habe er nicht gewagt: »Es war so ein Tabu. Und oft wurde, wenn etwas rauskam, eher das Kind beschuldigt als der Täter.»
Erst mit 15 Jahren entkam Paul ­Stewart durch einen Vereinswechsel seinem Trainer, machte Karriere bei Manchester City, Liverpool und Tottenham. Und kämpfte mit Alkohol- und Drogenproblemen – eine Folge der traumatischen Erfahrungen, so glaubt er. Andere Spieler ­berichten ebenfalls von Traumata und auch von der Sorge, ihre Karriere zu ruinieren, wenn sie von dem Missbrauch berichten würden. Erst der Auftritt von Andy Woodward brachte die Lawine ins Rollen. Mittlerweile beschäftigen sich fünf Polizeibehörden mit den Ereignissen. England wartet auf die Fälle, die da noch ans Licht kommen könnten, und stellt sich beklommen die Frage, wie viel von den Strukturen, die in den achtziger und neunziger Jahren sexuellen Missbrauch möglich machten, wohl heute noch existieren.