Dossier: »Weitgehend friedlich« Die Debatte über die Silvesterübergriffe in Köln.

Die Wahrheit über Köln

Die Ursachen für die massenhaften Übergriffe auf Frauen sind so vielfältig wie die Gesellschaft, in der sie sich ereignen.

Als ich mich vor einigen Wochen auf einer Veranstaltung in Paris als ­Kölnerin outete, bekam mein Gesprächspartner große Augen. »Sie kommen aus Köln? Darf ich fragen, was Sie Silvester so vorhaben?«
Das passiert mir nicht zum ersten Mal. Köln hat sich mit den Silvestervorfällen in das Gedächtnis vieler Menschen, anscheinend nicht nur in Deutschland, eingebrannt. Als eine Stadt, in der der öffentliche Raum für Frauen nicht mehr sicher ist.
Nie zuvor hat es in Deutschland in einer Nacht auf so engem Raum so viele Überfälle auf Frauen gegeben.
Die Silvesternacht von Köln hat verheerende Folgen, nicht nur für die betroffenen Frauen und das Image der Stadt. Auch die Langzeitfolgen werden gravierend sein: die Traumata der Frauen, die Monopolisierung des öffentlichen Raums durch Männer, das schwindende Vertrauen in die Ordnungskraft des Staates.
In der Diskussion werden die Vorkommnisse aus unterschiedlichen Perspektiven interpretiert. Während für die einen die Täter entgrenzte Männer sind, ohne Berücksichtigung ihrer Herkunft und ihrer Kultur, ­sehen andere die Ursache für das Verhalten dieser Männer in ihrer ­Religionszugehörigkeit.
Während die einen einzig und allein den Islam als Ursache des kriminellen Verhaltens der jungen Männer ausmachen, behaupten die anderen, sie sähen keine Muslime, denn diese Männer seien alkoholisiert gewesen und Muslime tränken nun mal keinen Alkohol. Das ist hübsch kombiniert, aber falsch. Selbstverständlich verstehen sich diese Menschen als bekennende Muslime. Aber genauso falsch ist die Annahme, dass allein der Islam als Religion für diese männliche Brutalität verantwortlich ist.
Beide Seiten legen eine Sichtweise an den Tag, die es an Differenzierung fehlen lässt. Wenn man die Vorgänge der Silvesternacht wirklich aufarbeiten will, muss man sie differenziert betrachten und die Dinge beim Namen nennen.
Natürlich gibt es in jeder Gesellschaft aggressive junge Männer und in fast allen Gesellschaften ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau nicht da, wo aufgeklärte Frauen sich das wünschen würden.
Aber zur Wahrheit gehört, dass in feudalen Gesellschaften – und aus diesen stammen die Täter – Frauen und ihre Sexualität als Objekte der Männergesellschaft gesehen werden.
Zur Wahrheit gehört, dass in diesen Gesellschaften die Ehre des Mannes über das Sexualverhalten der Frau definiert wird.
Zur Wahrheit gehört, dass eben dort Erziehung als normativer Gruppendruck verstanden wird, und ­Gebote und Verbote durch autoritäre Gewalt aufrechterhalten werden.
Zur Wahrheit gehört auch, dass diese gesellschaftlichen Zwänge und die Unterdrückung der Frau mit dem Islam erklärt und gerechtfertigt werden.
Zur Wahrheit gehört, dass feudale Gesellschaften Moralvorstellungen haben, die das Zusammenleben bis ins kleinste Detail regeln, aber keine Ethik, in der der Mensch sich zwischen richtig und falsch entscheiden muss.
Wenn dann diese jungen Männer, in einer solchen Gesellschaft auf­gewachsen, äußerlich dem Druck der Familie und der Gesellschaft ent­ronnen, aber innerlich noch ganz in den feudalen Strukturen zu Hause, sich plötzlich mitten in Europa in einer Gesellschaft wiederfinden, in der andere Freiheiten und Prioritäten gelten, wenn sie aber gleichzeitig spüren, dass sie niemals in dieser Gesellschaft ankommen werden, wenn sie frustriert und marginalisiert und bar jeglicher Perspektive sind, dann kann das passieren, was in der Silvesternacht in Köln passiert ist.